Schweizer Medienkollektiv gewinnt Preis: Journalismus ohne Profit
Das anarchistische Kollektiv „megafon“ erhält die Auszeichnung „Schweizer Chefredaktion des Jahres“. Es sagt viel über die Medienwelt aus.
Heute steht auf der Fassade: „Nazis benennen, Farbe bekennen.“ Auf dem Vorplatz sitzen Menschen in der Sonne, trinken Bier, fahren Skateboard. Wer eines der großen Tore der Reitschule aufstößt, gelangt in den Innenhof. Von hier weisen Schilder den Weg zum Restaurant, dem Frauenraum, dem Konzertsaal, der Bar, der Bibliothek.
Das Kulturzentrum Reitschule ist das Herz der autonomen Bewegung in Bern. Das Gebäude wurde während der Jugendunruhen in den 1980er-Jahren besetzt. Zu dieser Zeit flammten in Städten in der ganzen Schweiz Proteste auf. Sie forderten Freiräume für junge Menschen – und nahmen sich diese, ohne zu fragen.
Am Ende eines der vielen Gänge sitzen an diesem Sonntagnachmittag Ende Januar fünf Menschen um einen großen Tisch. Ihre Köpfe sind über Texte gebeugt. „Gerade lesen wir Korrektur“, sagt Vera Diener und läuft in einen zweiten Raum hinüber.
Früher ein linksaktivistisches Szeneblatt
„Hier wird gelayoutet“, sagt Diener und deutet auf Jérémie Reusser, der auf einen PC schaut. An einem anderen Tisch sitzt Reto Riggs und arbeitet an einer Illustration. „Heute Abend muss das megafon in den Druck, dann falten und versenden wir die Zeitung.“
Diener, Reusser und Riggs sind Teil des Zeitungskollektivs der monatlich erscheinenden Publikation megafon. Die Zeitung gibt es wie die Reitschule seit über 30 Jahren. Lange Zeit galt es als Sprachrohr des autonomen Zentrums, ein linksaktivistisches Szeneblatt, das über Demos und Veranstaltungen im Haus berichtete. Heute publiziert es Texte und Comics über psychische Gesundheit, Musik, Stadtpolitik oder transformative Gerechtigkeit – je nachdem, was die Redaktionsmitglieder gerade interessiert.
2021 wurde der Zeitung eine unerwartete Ehre zuteil: Das Branchenmagazin Schweizer Journalist:in ernannte sie zur Chefredaktion des Jahres. In den vorigen Jahren erhielten diese Auszeichnung etablierte Redaktionen wie die NZZ am Sonntag.
Dass nun das megafon gewählt wurde, ist umso ungewöhnlicher, weil das Zeitungskollektiv keine:n Chef:in hat. Es ist selbstverwaltet und finanziert Druck und Postversand ausschließlich über Spenden und Abos.
Kein Profit
Geld verdient hier niemand. Wer mitmacht, macht es freiwillig. Riggs stieß vor zwei Jahren über Instagram zur Truppe, er wollte für die Zeitung gestalten. „Ich wurde ermutigt, neue Dinge zu lernen und mich auszuprobieren. Mittlerweile habe ich mithilfe anderer Redaktionsmitglieder sogar einen Text veröffentlicht“, sagt er. Neben dieser Tätigkeit ist er Student, so wie viele andere im Kollektiv.
Auch für Diener ist es ein Ort zum Experimentieren: „Ich bin gelernte Floristin. Hier kann ich Texte über politische Themen schreiben, die mir wichtig sind. Und zwar so, dass auch Menschen ohne Uni-Abschluss Zugang finden“, sagt sie.
Im letzten Jahr etwa beschäftigte sie sich eingängig mit einer importierten Vogelart. Insbesondere die Rhetorik der „nicht heimischen Art“ interessierte sie mit Blick auf das Konzept „Heimat“. „Ich mag vermeintlich unbedeutende Nischenthemen, die etwas über die Gesellschaft verraten.“
Hinter Reusser, der heute das Layout macht, türmen sich Schachteln mit allen Ausgaben, die das megafon seit 1987 herausgegeben hat. Über den PC hinweg sagt er: „Die Auszeichnung zur ‚Chefredaktion des Jahres‘ sagt weniger über uns aus als über den Zustand der Schweizer Medien. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Leute sauer werden auf Tamedia.“
Tamedia ist die Medienmarke der „TX Group“. Der Konzern der steinreichen Familie Coninx dominiert zusammen mit drei weiteren Firmen beinahe den gesamten Schweizer Medienmarkt. Kleinere und verlagsunabhängige Zeitungen haben es schwer, sich im Angesicht der Giganten zu halten. Insbesondere viele Lokalzeitungen wurden in den vergangenen Jahren aufgekauft, zusammengelegt, verkleinert.
„Chefredaktion des Jahres“
Das megafon ist der Gegenentwurf zum Profitmodell der Großverlage, denen Dividenden mehr bedeuten als Journalismus. Das kommt gut an – gerade bei Journalist:innen, die vom Sparkurs direkt betroffen sind. Die Wahl zur „Chefredaktion des Jahres“, sie kann auch als Protest frustrierter Journalist:innen gegen ihre Arbeitgeber:innen interpretiert werden.
Auch wenn die Kollektivmitglieder sich über die Wertschätzung ihrer Arbeit freuen, zugehörig fühlen sie sich im Medienzirkus nicht. Das Kollektiv arbeitet mit denselben journalistischen Mitteln wie andere Redaktionen, doch: „Wenn eine unbewilligte Demonstration Repressalien nach sich zieht, müssen die betroffenen Aktivist:innen uns nicht erklären, was Versammlungsfreiheit bedeutet. Bei Journalist:innen aus klassischen Redaktionen kommt das vor.“
Das schaffe ein vertrauensvolleres Verhältnis zu Quellen und Zugang zu Informationen, den nicht alle Redaktionen haben, sagt Reusser. Er hat trotzdem keine Lust, linke Manifeste zu drucken, die nur die eigene Bubble erreichen.
Noch weniger wollen die Kollektivmitglieder den Erwartungen der Medienbranche entsprechen. Obwohl die Zeitung immer wieder Sensationen aufdeckt, kommt es ohne klotzige Aufmacher daher. Eine typische megafon-Geschichte ist leise, aber hallt nach.
Zwischen Journalismus und Aktivismus
Während der Coronazeit fiel das Zeitungskollektiv insbesondere durch kenntnisreiche und kontinuierliche Berichterstattung über Anti-Corona-Demos auf. Etliche Male waren sie die Einzigen, die dokumentierten, wenn Neonazis bei den Demos mitliefen. Oft publizierten sie es auf Twitter, wo sie eine immer größere Gefolgschaft fanden.
„Für die Aktivist:innen aus der Reitschule sind wir Journalist:innen, für die Journalist:innen sind wir Aktivist:innen. Das öffnet uns jeweils unterschiedliche Türen“, sagt Reusser. „Wir haben Zugang zu beiden Welten, sind aber dennoch distanziert von ihnen“, sagt Riggs.
Der Opportunismus gefalle ihnen. Manchmal legt sich die Redaktion mit den großen Häusern an. Zum Beispiel im vergangenen Jahr, als ein satirisches Meme auf Twitter dem megafon die Klage einer Tamedia-Journalistin einbrachte.
Mit dem Meme machte sich das Kollektiv lustig über die Journalistin, die in einem Interview über die angebliche „cancel culture“ klagte. Sie verglich deren Konsequenzen mit einem Todesurteil. Den Rechtsstreit gewann die Reitschule-Zeitung. Auf Twitter postete die Gruppe: „megafon: 1; Tamedia: 0“.
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