Schulsystem Finnland: Menschlich auf der Strecke geblieben
Nach dem Amoklauf herrschen in Finnland Trauer und Entsetzen. Gleichzeitig wurde eine alte Debatte wiederbelebt: Wie gut ist das heimische Schulsystem wirklich?
Es hätte überall passieren können. Aber nun ist es zweimal in Finnland passiert. "Ich bin kein bisschen verwundert", sagt Anna Lindblom, Schwedischlehrerin in Helsinki: "Allenfalls erstaunt, dass so etwas nicht schon früher geschehen ist." Vor einem knappen Jahr der Amoklauf eines Abiturienten an der Schule von Jokela, der erst acht Menschen ermordete und dann sich selbst tötete, nun die tragische Wiederholung in Kauhajoki mit elf toten SchülerInnen. In Finnland hat das eine Schuldebatte wiederbelebt, die in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit weithin verdrängt worden war. Denn wozu auch an einer Schule etwas ändern wollen, welche bei allen Pisa-Tests Spitzenwerte erzielt, zu der BildungspolitikerInnen aus halb Europa wallfahrten und die überall als das große Vorbild verkauft wird?
"Finnlands Schule ist vielleicht wirklich die beste, wenn es darum geht, wie die Lehrer es schaffen, den Schülern das Wissen zu vermitteln", sagt Olav S. Melin, Chefredakteur der Zeitung Kotimaa: "Aber ihre Kompetenz, sich auch wirklich menschlich um sie zu kümmern, lässt viel zu wünschen übrig." Dass darüber bislang so wenig gesprochen wurde, schiebt Melin auch auf die Pisa-Hörigkeit: "Man war zufrieden damit, auf der Liste oben zu stehen." Und man habe sich zu wenig um die gekümmert, die bei diesem Schulsystem auf der Strecke bleiben. Malou Zilliacus, Vorsitzende des Finnisch-Schwedischen Schulverbands FSS, stimmt dieser Einschätzung zu: "Ein gutes Schulklima ist Voraussetzung für gute Schulleistungen. Aber wir sind fälschlicherweise davon ausgegangen, dass gute Schulleistungen auch eine Garantie dafür sind, dass die Schüler sich wohl fühlen."
Viel zu wenig habe in der Vergangenheit das Wohlergehen der SchülerInnen im Fokus gestanden, meint Zilliacus. Auf dem Papier sieht alles vorbildlich aus. Kein Notendruck, keine Angst vorm Sitzenbleiben, Anspruch auf Gruppen- und Einzelförderunterricht, jede Schule hat Zugang zu psychologisch geschultem Personal. Aber tatsächlich haben sich die Schulen von den massiven Kürzungen in der Wirtschaftskrise der Neunzigerjahre nur langsam erholt. "Und was bringt das denn tatsächlich in der Praxis, wenn da jeden Dienstag von zehn bis zwölf ein Kurator zur Verfügung steht", fragt Zilliacus. Erforderlich sei auch ein soziales Klima, dass es überhaupt angelegen sein lasse, Hilfe zu suchen. Doch daran fehle es in Finnland.
Vielleicht sei ja die grundlegende finnische Wesensart mitverantwortlich, dass an den Schulen zu wenig Hilfe geboten, aber auch zu wenig nachgefragt werde, meint der Schriftsteller und ausgebildete Sozialarbeiter Kjell Westö: "Wir sind ja nicht so toll, wenns ums Kommunizieren geht. Und schon gar nicht innerhalb der männlichen Kultur." Das greife als Erklärung zu kurz, findet Märta Kinu, Gymnasiallehrerin in Helsinki: "Vor allem fehlt es den Jugendlichen an Erwachsenen-Kontakten." Und der finnischen Schule, so, wie sie jetzt sei, gelinge es auch nicht, ausreichenden Ersatz zu bieten: "Oft scheinen es nur wir Lehrer zu sein, die die Schüler haben. Sie reden mit uns über ihre Eltern, die sich geschieden haben, über Beziehungen zu Freund oder Freundin, die in die Brüche gegangen sind, über ihre Angst, nicht tüchtig genug zu sein. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn ein Schüler ins Lehrerzimmer kommt, einen umarmt und sagt, dass er sonst niemand hat, den er umarmen könne?"
Wenn sie wenigstens protestieren würden, meint Kinu, gegen die Eltern oder die Schule. Doch tatsächlich scheine das Klima, gelähmt von Stress, Einsamkeit und Angst, nicht zu taugen. Vergleichende Untersuchungen zeigen an finnischen Schulen den höchsten Anteil an Depressionssymptomen in ganz Skandinavien und die größten Mobbingprobleme. Kinu wünscht sich eine Schule, die nicht so sehr vom Leistungsdruck geprägt ist, wo nicht vor allem darauf Wert gelegt wird, den Lehrplan durchzupeitschen, sondern die auch Raum und Zeit lässt, sich zu einer Identität vorzutasten: "Es ist doch diese Entwicklungsphase, in der das geschieht. Wir müssten mehr Zeit haben, um zu sprechen und miteinander nachzudenken."
Wissensvermittlung ja, aber die Schule solle auch und vor allem auch Zeit und Gelegenheit zum Wachsen und Reifen bieten. Die hochgelobte finnische Schule leiste das nicht, sagt die Lehrerin: "Wir pressen nur eine Menge Wissen in sie hinein, ein Kurs nach dem anderen, alles zersplittert und keine Zeit zur Vertiefung. Die Schüler sollen viel zu schnell Erwachsene werden."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid