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Schuld und Krieg im Nahen OstenDer lange 7. Oktober

Wie lässt sich weiterleben, wenn andere ermordet wurden? Für Menschen in Israel ist die Frage sehr konkret – nicht nur nach dem Massaker der Hamas.

Ein Bild einer Überwachungskamera des Kibbuz Beʾeri zeigt den Hamas-Angriff am 7. Oktober Foto: South First Responders via reuters

D ie Schuldfrage hat in den letzten Wochen Hochkonjunktur. Wer hat Schuld am Krieg im Nahen Osten? Dass sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen in Deutschland lebensbedrohlich sein kann, zeigt die Gewalttat gegen den jüdischen Studenten Lahav Shapira. Er wurde mutmaßlich von einem muslimischen Kommilitonen krankenhausreif geschlagen, nicht etwa, wie zunächst berichtet, weil es eine „Meinungsverschiedenheit“ in Bezug auf diese Frage gegeben hätte, sondern, darauf deutet vieles hin, aus Judenhass.

Die Frage nach Schuld lässt sich auf unterschiedliche Weise beantworten: moralisch, juristisch, politisch, religiös. Schuld ist unweigerlich mit Verantwortung verknüpft. Wer trägt diese, und was folgt aus ihr? Wenn ich jedoch heute Texte über den Krieg zwischen Israel und der palästinensischen Terrororganisation Hamas lese, klingt es oft so, als hätte es den 7. Oktober nie gegeben. Man könnte fast vergessen, dass das antisemitische Massaker stattgefunden hat. Aus der wichtigen Frage, wie es zu der humanitären Katastrophe im Ga­za­strei­fen kommen konnte, wird eine moralische Anklage, die fast nie ohne Hass auf Israel und Juden auskommt.

Schuld ist auch ein quälendes Gefühl. Zu den schlimmsten seiner Art gehört sicherlich das, überlebt zu haben. Für KZ-Überlebende war die Befreiung aus den Lagern oft nicht der Beginn großen Glücks und von Erleichterung. Es flossen nicht Tränen der Freude, sondern der Traurigkeit, so beschrieb es einmal der jüdische Widerstandskämpfer Jitzhak Zuckerman. Der Überlebenskampf war mit der Befreiung zwar zu Ende, doch das Ausmaß des Verlustes wurde erst mit dem Ende des Kriegs deutlich. Viele Überlebende quälte die Schuld, überlebt zu haben, während andere, Freunde und Familie, ermordet worden waren. Auch Jüdinnen und Juden, die sich frühzeitig retten konnten, erging es oft so.

Jahrzehnte litten Shoah-Überlebende dann darunter, dass Psychiater und Psychoanalytiker in Deutschland ihr Seelenleiden nicht verstehen wollten. Am drastischsten zeigte sich dies an den Gutachten, die Sachverständige für die Bewilligungen der sogenannten Wiedergutmachungsanträge in der Bundesrepublik ausstellten.

Überlebende des Nationalsozialismus erfuhren das, was der Arzt Christian Pross einmal den „Kleinkrieg gegen die Opfer“ nannte. Entschädigungsanträge wurden abgelehnt, weil die Gutachter mal hypochondrische Einstellungen attestierten, mal psychopathische Neigungen, die aus ihrer Sicht nicht mit KZ-Aufenthalten in Verbindung stehen konnten, schließlich lagen die ja schon Jahre zurück. Die Praxis der Bundesrepublik war über Jahre den Opfern gegenüber unwürdig und ungerecht.

Die Wochen nach dem 7. Oktober

Es gibt eine Parallele zum 7. Oktober. Sie liegt weniger im Umgang mit dem Umfeld als in dem Gefühl der Betroffenen, in ihrem Inneren. Seit dem Massaker der Hamas empfinden viele Israelis Schuldgefühle, weil sie leben. Das erzählte mir eine Psychologin aus Tel Aviv, die ich in Berlin traf. Sie selbst denke jeden Tag daran, wie es sein könne, dass sie am 7. Oktober unversehrt in ihrem Bett aufgewacht war, während bereits zahlreiche Menschen ermordet, gefoltert, verschleppt worden waren.

Diese Schuldgefühle, so beobachte ich, tragen auch Juden außerhalb Israels mit sich herum. Denke ich an mich zurück, an die ersten Wochen nach dem 7. Oktober, so waren das unaufhörliche Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten, der Schlafentzug, das Nichtessen doch auch nur ein Versuch, damit umzugehen, mit der von Schuld begleiteten Erleichterung zu leben.

Schuld ist nicht nur die Frage nach Gut und Böse, nach Täter und Opfer, sondern die nach dem „Wie weiter?“. Das Glück liegt in dem Gedanken, dass es ein Morgen gibt. Gegen die Schuldgefühle hilft nur weiterzumachen, sagte mir die Psychologin. Also: leben, auch wenn es schwerfällt.

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Erica Zingher
Autorin und Kolumnistin
Beschäftigt sich mit Antisemitismus, jüdischem Leben, postsowjetischer Migration sowie Osteuropa und Israel. Kolumnistin der "Grauzone" bei tazzwei. Beobachtet antidemokratische Bewegungen beim Verein democ. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.
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3 Kommentare

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  • Mehr „machloket“ wagen

    Zitat: „Schuld ist nicht nur die Frage nach Gut und Böse, nach Täter und Opfer“

    Dazu die jüdisch-stämmige Schriftstellerin Mirna Funk: „Mein Verständnis von Wahrheit bedeutet, daß zwei gegensätzliche Positionen nebeneinander existieren, und die einzige Chance auf Wahrheit ist, sich in einer ständigen und niemals endenden Bewegung zwischen diesen beiden Polen zu bewegen und durch diese ständige Bewegung der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen. Immer, wenn wir glauben, sie begriffen zu haben, entzieht sie sich uns erneut. Und das ist richtig so. Jeder, der behauptet, er habe die Wahrheit für sich gepachtet, jeder, der glaubt, er habe die Welt verstanden, ja jeder, der behauptet, man müsse ihm oder ihr folgen, weil sie der Gral der Weisheit und Wahrheit sind, sollte dringend gemieden werden.

    Diese Vorstellung bezieht sich auf den jüdischen Begriff machloket. Und das Wort machloket bedeutet, wenn man es wörtlich übersetzen wollte, »Streit« und steht für eine jüdische Form von Streitbarkeit. Es bezeichnet eine Meinungsverschiedenheit oder Debatte, insbesondere in Bezug auf Interpretationen religiöser Texte oder ethischer Fragen. Machloket ist ein zentraler Bestandteil des jüdischen Lernens und Denkens, da es als Methode zur Erkundung unterschiedlicher Perspektiven und tieferen Untersuchung der Wahrheit genutzt wird.

    Dabei muß betont werden, daß machloket in der jüdischen Tradition nicht negativ konnotiert ist. Vielmehr wird es als Zeichen von Engagement und Respekt betrachtet, wenn die Beteiligten tiefgründig über ein Thema nachdenken und verschiedene Aspekte berücksichtigen. Es wird oft gesagt, daß jeder machloket »Shem Shamayim« (für den Himmel) ist, was bedeutet, daß der Streit mit der Absicht Shem geführt wird, ein tieferes Verständnis der göttlichen Wahrheit zu erlangen.“ (aus »Von Juden lernen«, dtv München 2024, via „Jüdische Allgemeine“, 21.2.2024)

    Auch für die Beurteilung des Gaza-Konflikts sollte gelten: Mehr „machloket“ wagen!

  • Sie sind so eine wichtige Stimme. Ich danke Ihnen aus vollem Herzen!



    Nicht leiser werden bitte! Nicht aufgeben!



    Alles Gute!



    Wo waren die Tausende Demos nach dem 7. Oktober?

    • @MIA R.:

      Ich schließe mich an.

      Auch ich wünsche alles Gute.

      Auf die Frage nach den ausbleibenden Demos habe ich leider auch keine zufriedenstellende Antwort.