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Schüsse auf FlüchtlingeWarum sind alle so still?

Türkische Grenzbeamte sollen syrische Geflüchtete getötet haben. Viele deutsche Politiker schweigen dazu. Und Frauke Petry triumphiert.

Türkische Grenzsoldaten auf Patroullie an der Grenze zum Irak Foto: dpa

Auf dem Video, das die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) veröffentlicht hat, sind Leichen zu sehen. Ihre Gesichter sind verpixelt, aber ihre Wunden und das Blut sind deutlich zu erkennen. Sie sollen an der türkisch-syrischen Grenze gestorben sein – erschossen oder zu Tode geprügelt von türkischen Grenzschützern. Die Organisation hat mit Opfern und Zeugen gesprochen. Insgesamt sollen im März und April fünf Asylsuchende und Schleuser an dem Grenzstreifen getötet und 14 weitere schwer verletzt worden sein, darunter auch Kinder. Die Grenze werde immer gefährlicher und sei häufig ganz dicht, schreibt HRW.

Bisher gibt es außer diesen Zeugenaussagen, die die Organisation in ihrem Bericht zitiert, keine Beweise dafür, dass die Türkei auf Geflüchtete schießt. Es gibt kein Video, auf dem ein türkischer Grenzer die Waffe anlegt und abdrückt.

Aber die Schilderungen der Opfer lesen sich fundiert und detailreich: „Plötzlich, als wir rund 500 Meter von der Grenze entfernt waren, hörten wir, dass eine automatische Waffe von dort abgefeuert wurde“, berichtet ein Mann, der mit Frauen und Kindern unterwegs gewesen sein soll. „Wir warfen uns auf den Boden und schützten die Kinder mit unseren Körpern.“ Sein Cousin und seine Schwester seien am Boden neben ihm liegend gestorben.

Wenn das so stimmt, dann ist das ein Skandal. Dann heißt das, dass Geflüchtete nicht mehr nur „durch Zufall“ auf ihrem Weg nach Europa ertrinken oder sterben – und Europa wegschaut. Sondern dann heißt dass, dass Europa dazu beiträgt, dass Menschen auf ihrem Weg nach Europa ermordet werden.

Der Aufschrei bleibt aus

Als die AfD-Vorsitzende Frauke Petry Anfang dieses Jahres einen Schießbefehl an Europas Grenzen forderte, war der Aufschrei in den Medien und unter Politikern groß. Jetzt, da tatsächlich geschossen wird, schweigen ebenjene.

Aber müsste nicht zumindest die Kanzlerin in ihrer gewohnt konsensorientierten Art vor die Kameras treten und etwas von einer „umfassenden Aufklärung“ erzählen? Von „überprüfen“ und „wir gehen dem nach“? Egal, ob sich diese massiven Menschenrechtsverletzungen bewahrheiten, eine Untersuchung sollte doch drin sein – aus moralischen Gründen, aber auch für ihre eigene Glaubwürdigkeit.

Als die AfD-Vorsitzende Frauke Petry einen Schießbefehl an Europas Grenzen forderte, war der Aufschrei in den Medien und unter Politikern groß. Jetzt, da tatsächlich geschossen wird, schweigen ebenjene

Für Frauke Petry und ihre „Alternative für Deutschland“ sind die Vorfälle ein politisches Geschenk. Schon nach den Berichten über Schüsse an der slowakisch-ungarischen Grenze in der Nacht zum Montag ergötzte sich die AfD-Sprecherin über das Schweigen der anderen auf Facebook.

Ein slowakischer Zöllner hatte eine Frau aus Syrien angeschossen und verletzt. Die saß mit anderen Migranten und mutmaßlichen Schleusern in einem von vier Autos, die die Grenzbeamten aufzuhalten versuchten. Nach Drohungen des Fahrers hätten die Polizisten Schüsse auf die Reifen abgegeben und dabei die Frau getroffen, sagte eine Polizeisprecherin. Die genauen Umstände sind noch unklar.

Dass kein Politiker zu diesen Vorfällen öffentlich Stellung nahm, konnte Petry unwidersprochen für sich nutzen. Und auch darin liegt das Problem der öffentlichen Stille. Denn tatsächlich rüttelt sie an der Glaubwürdigkeit der EU.

Wieder einmal verstärkt sich der Eindruck, dass sich die Europäische Union und die Bundesregierung mit dem Deal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan von ihrer Verantwortung freigekauft haben: Die EU gibt Milliarden und überlässt der Türkei den Rest. Und weil keiner den sowieso schon wackelnden Deal gefährden will, schweigt man zu den Menschenrechtsverletzungen. Denn würde das Abkommen scheitern, müsste Europa die Geflüchteten wieder selbst aufnehmen – und daran haben die europäischen Regierungen kein Interesse.

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9 Kommentare

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  • Die Moderation: Kommentar entfernt

    • @Vladimir Z.:

      Das grundlegende Problem ist hierbei, Hilfsbedürftige mit "Angreifern" und "Vergewaltigern" gleichzusetzen.

       

      Das muss man vielleicht tun, um verschleiern zu können, dass man selbst der "Angreifer" und "Vergewaltiger" ist, derjenige, der dazu bereit und Willens ist, für die Wahrung seines persönlichen Wohlstands Unschuldige und Wehrlose zu ermorden, ohne erkennbare Regung eines Gewissens.

      • @cursed with a brain:

        Mir ging es aber nicht um den Inhalt, sondern um die Art der Fragestellung, die von vornherein eine Eskalation vorgesehen hat.

        • @Vladimir Z.:

          Das ist keine "Eskalation", sondern lediglich der Versuch herauszufinden, wo die Schamgrenze beim Interviewpartner verläuft. Wann wird eine (theoretisch-abstrakte) Überzeugung ("Wir müssen unseren Wohlstand schützen") zugunsten "höherer", immaterieller Werte aufgegeben, wie "Empathie", "Menschlichkeit" oder "Hilfsbereitschaft". Werte, die immer auch bedeuten, dass man selber etwas einschränkt, aufgibt (Bequemlichkeit, Ruhe) oder teilt (Raum, Ressourcen).

           

          Frau Petry hat im Interview offenbart, dass es diesen Punkt nicht gibt, an dem sie etwas auf- oder abgibt, eher würde sie morden bzw. morden lassen. Und sie verteidigt diesen Rückfall in vorzivilisatorische Denk- und Handlungsweisen kackdreist als notwendiges und legitimes Grundrecht.

           

          Angesichts der jahrhundertelangen Unterwerfung, Versklavung und Ausbeutung weiter Teile der übrigen Welt durch (West-)Europa von den ersten "Entdeckern" und ihrren Schiffen bis zum modernen, globalisierten Finanz- und Warenmarkt (inklusive unserer Waffenschiebereien) beweist sie mit ihrer Verdrehung von Täter und Opfer nicht nur einen eklatanten Mangel an Bewußtsein für die eigene Geschichte. Auch mit Leitmotiven einer "abendländisch-christlichen Kultur" und den universellen Werten der Aufklärung hat der von Petry entfesselte Ungeist nicht das Geringste zu tun.

  • 1G
    1714 (Profil gelöscht)

    Glaubwürdigkeit der EU? lol !!

    Und dass unsere PolitikerInnen nichts sagen, ist leicht erklärbar: sie sind in stillem Gebet für die Opfer versunken. Das muss reichen.

  • Es ist gut, dass die taz das thematisiert. Wenn eine neue Partei etwas fordert, wird die extremste der denkbaren Interpretationen gross publiziert um zu zeigen, wie schrecklich radikal diese Partei ist. Wenn ein deutscher Innenminister das gleiche tatsächlich macht, sind die Proteste deutlich verhaltener und wenn Merkel jemand anderen für die Drecks"arbeit" bezahlt, bleibt sie moralisch unangetastet. Genau diese Doppelmoral der Medien unterstützen die AfD mit ihrem Kampfbegriff der "Lügenpresse".

    Bei aller berechtigten Kritik an der türkischen Politik, die im eigenen Land Menschen bombardiert, für die Flucht der Menschen aus Syrien mit Verantwortung hat und Flüchtlinge misshandelt, muss auch gesehen werden, dass die Türkei die weitaus meisten Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt und versorgt. Man kann die Türkei dafür finanziell unterstützen, wenn man gleichzeitig das daneben verübte Unrecht kritisiert. Wenn diese Kritik jedoch ausbleibt, wird die finanzielle Unterstützung zur Mitverantwortung.

  • Wo ist die politische Partei, die strikt auf der Seite der Flüchtlinge und der Menschenrechte steht? Wir brauchen diese Partei dringend!

  • Das also ist die "westliche Wertegemeinschaft"?

     

    Wir zahlen an einen "Geschäftspartner" namens Erdogan-Türkei, den wir so seriös einschätzen, dass wir ihn nicht in unsere "westliche Wertegemeinschaft" aufnehmen, ihm aber freie Hand bei der Arbeit geben/lassen, die wir selber nicht erledigen möchten?

     

    Wie krank ist das denn?

     

    Wir sagen Hilfe suchenden Flüchtlingen nicht nur, dass sie bei uns keine Zuflucht finden können, sondern wir setzen sie auch noch dem Risiko aus, bei ihrer Flucht erschossen zu werden?

     

    Nein, ich habe keine Antwort, die ich öffentlich schreiben kann bzw. schreiben möchte, denn der gleiche Staat, die gleiche Regierung, die mit zu verantworten hat, dass Menschen "auf der Flucht" umkommen, sterben, verrecken, die würde die ganze Härte des Strafrechts dann vielleicht gegen mich anwenden lassen. - Im christlich geprägten Abendland sollte man jedoch noch so "bibelfest" und "glaubensstark" sein, dass man weiss, dass unser Tun und unser Unterlassen bewertet wird und wir zur Rechenschaft gezogen werden.

  • Merkel schweigt immer, wenn sie selbst für etwas Verantwortung trägt und nichts Gutes dabei heraus gekommen ist. Und die Kanzlerin weiß ganz genau, wer die türkische Regierung mit der "Verteidigung der EU-Außengrenzen" beauftragt hat.