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Schröder, der Volkskanzler

In der Haushaltsdebatte lief der Kanzler zu großer Form auf und überraschte mit rhetorischem Geschick und traditionell sozialdemokratischen Überzeugungen. Seine Partei jubelte, die Opposition wirkte konsterniert  ■ Von Markus Franz

Bonn (taz) – Es fing an mit einem mißglückten Scherz: „Wenn Wolfgang Schäuble zu einem Ideenwettbewerb der Parteien aufruft“, sagte Bundeskanzler Schröder in der gestrigen Debatte im Bundestag, die sich eigentlich um den Haushalt 1999 drehen sollte, „dann hat er übersehen, daß der Ideengeber der politischen Mitte nicht Charles Darwin ist.“ Der Kanzler machte ein Kunstpause, aber selbst in den eigenen Reihen gab es keine Reaktion. Die Idee der politischen Mitte, fuhr Schröder fort, stamme eher von der Französischen Revolution. Das habe etwas mit Freiheit zu tun. „Sie dagegen“, und damit wandte er sich an die Opposition, „definieren Freiheit als Gewerbefreiheit.“ Das Gelächter der Regierungsparteien war zurückhaltend. Worauf wollte der Kanzler hinaus? Sollte es wieder eine dieser vagen Reden werden, die zwar voller kraftstrotzender Sprüche sind, ein inhaltliches Konzept aber vermissen lassen?

„Für die Realisierung von Gleichheit“, legte Schröder nach, fehle der Opposition das soziale Gewissen, für Brüderlichkeit jede Sensibilität. Damit hatte er die revolutionären Losungsworte beisammen. Hatte Schröder den alten Juso in sich wiederentdeckt? Oder hat er nur einen neuen Redenschreiber?

„Alter Juso!“ scholl es aus den Reihen der Opposition, als Schröder, nachdem er in der Atompolitik um Geduld für einen „langfristigen“ Ausstieg gebeten hatte, Engels zitierte: „Die Einsicht in die Notwendigkeit hat auch mit Freiheit zu tun.“ Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit also und dabei nie die neue Mitte vergessen. Die Zuhörer staunten. Wollte der Kanzler endlich einmal seine gesellschaftspolitischen Grundüberzeugungen preisgeben? War das etwa die Antwort auf CDU-Parteichef Schäuble, der sich in seiner Rede zuvor darauf konzentriert hatte, Schröder als „Bruder Leichtfuß“ und „Ulknudel der Nation“ zu verunglimpfen? „Hochmut kommt vor den Fall“, sagte Schäuble und spielte auf Schröders Gottschalk-Auftritt an, als er hinzufügte: „Wetten daß?“

Es klang übertrieben, was Schröder da von sich gab, aber es war auch ein Signal: Ich, der Kanzler, stehe voll und ganz zu dem traditionell sozialdemokratischen Kurs. Dem Kurs, den ihm Parteichef Lafontaine im Wahlkampf scheinbar aufgezwungen hatte. Schröder präsentierte sich, wie es sich Lafontaine nicht schöner wünschen könnte. Immer für die Schwachen eintreten und, damit sich genügend Leute angesprochen fühlen, möglichst viele Wählergruppen als Opfer der alten Regierung darstellen.

Um ein „Mindestmaß an sozialer Sicherheit“ zu geben, sei die Lohnfortzahlung wieder eingeführt worden, sagte Schröder. Wenn er über ältere Menschen rede und deren „Schicksal“, dann gehe es ihm um deren „Sicherheit“. Die Jugendlichen sollen durch das Ausbildungsprogramm der Bundesregierung nach „16 jämmerlichen Jahren“ eine „neue Chance“ bekommen. Den Familien wolle er ihre „materielle Grundlage“ sichern. Schröder als Samariter, der alles Unrecht heilt. Die Rentner und Jugendlichen und Arbeitslosen und Arbeitnehmer, also fast alle, wissen nun, wer auf ihrer Seite steht. „Der Volkskanzler!“ kommentierte jemand auf der Zuschauertribüne.

Anders als sonst verstand es Schröder diesmal, seine Vorredner von der Opposition wirkungsvoll zu kontern. An Schäuble gerichtet sagte er: „Sie haben gesagt, wir wollten mit unserem Ausbildungsprogramm die Jugendlichen ruhigstellen. Diesen Satz lassen Sie entweder im Protokoll ändern, oder Sie entschuldigen sich dafür.“ Jubel bei der SPD. Zum Thema Staatsbürgerschaft erteilte Schröder der Opposition eine Abfuhr: „Ich habe nicht vor, mit Leuten zu verhandeln, die hier im Bundestag von Toleranz reden, aber draußen jeden Ansatz von Toleranz kaputtmachen.“ Die Opposition wirkte konsterniert.

Selten verfolgten die Abgeordneten von Union und FDP eine Rede derart aufmerksam bis zum Schluß. Viele saßen vornübergebeugt und mußten noch eine besondere Qual erleiden: Sie mußten in die ihnen triumphierend zugewandten Gesichter von Joschka Fischer und Oskar Lafontaine blicken, die sichtlich zufrieden mit ihrem Kanzler waren.

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