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Autorin Sophia Fritz über Rollenbilder„Ich werde immer mehr zur Bitch“

Sophia Fritz hat mit ihrem Buch „Toxische Weiblichkeit“ für Debatten gesorgt. Derzeit befasst sie sich viel mit Männlichkeitsbildern.

Sophia Fritz arbeitete in ihrem Buch mit „radikaler Selbstoffenbarung“ Foto: Eno de Wit
Aron Boks
Interview von Aron Boks

Im Kölner Stadtteil Ehrenfeld reihen sich hippe Bäckereien mit hochwertigen Brotsorten an asiatische Restaurants. In einem von ihnen sitzt die Schriftstellerin Sophia Fritz und lächelt mir zu. Wir haben vor einigen Jahren im selben Verlag veröffentlicht, seitdem treffe ich sie regelmäßig, wenn sie ein neues Buch schreibt. Mich fasziniert Sophia Fritz’ Vielseitigkeit. Sie hat als Sterbebegleiterin gearbeitet, sie hat über Weinsorten geschrieben und über Glaubensfragen. Ihr letztes Buch „Toxische Weiblichkeit“ handelt von der Rollenverteilung und den Prägungen in der patriarchalen Gesellschaft.

taz: Sophia Fritz, alle reden von „toxischer Männlichkeit“. Du hast ein Buch über „toxische Weiblichkeit“ geschrieben. Was meinst du damit?

Im Interview: Sophia Fritz

Die Person

Sophia Fritz wurde 1997 geboren. Nach dem Abitur arbeitete sie ein Jahr in einem Waisenhaus in Bolivien. Sie studierte Drehbuch an der Filmhochschule in München. Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit machte sie eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin, sie arbeitet mit Körper- und Tantramassage-Methoden und bildet sich kontinuierlich im Bereich somatischer Beziehungsfürsorge fort.

Die Selbsterforschung

2024 erschien ihr Buch „Toxische Weiblichkeit“, in dem sie weibliches Verhalten als Reaktion auf patriarchale Strukturen untersucht. Unter www.ehrlichleben.de bietet Sophia Fritz mit ihrer Kollegin Christina Lehr zudem Selbsterforschungsräume an, in denen Teilnehmerinnen ihre gesellschaftlichen Prägungen und Handlungsmuster reflektieren können. Seit 2025 gibt es diese Räume auch für Männer

Sophia Fritz: Der Begriff toxische Weiblichkeit kursierte ja schon vor meinem Buch, zum Beispiel in Kommentarspalten, oft als antifeministische Reaktion. Mein erster Impuls war Widerstand, weil er wie ein Misogynie-Vehikel wirkte. Aber Sprache prägt Diskurse. Ich wollte nicht, dass Rechte oder verletzte Männerrechtler damit Deutungshoheit gewinnen. Ich wollte den Begriff zurückholen und feministisch besetzen. Ihn nutzen, um Strukturen sichtbar zu machen, statt Ressentiments zu bedienen.

taz: Was beschreibt er für dich?

Fritz: Unter toxischer Weiblichkeit verstehe ich Verhaltensweisen, die sich weiblich geprägte Menschen angeeignet haben, um im patriarchalen System besser klarzukommen, um sich ein- und manchmal auch unterzuordnen. Ich habe dafür zunächst geschaut, was mich selbst daran hindert, Kontakt auf Augenhöhe herzustellen, inwiefern das mit meiner weiblichen Prägung zu tun hat. Ich habe versucht, mit einer radikalen Selbstoffenbarung zu arbeiten und toxische Weiblichkeit so zu beschreiben, dass sich andere Frauen mit ähnlicher Prägung wiedererkennen können. Ich habe allerdings noch beim Schreiben des Buchs selbst ein Unbehagen gespürt, immer, wenn ich das Wort toxische Weiblichkeit verwendet habe.

taz: Wieso?

Fritz: Weil ich nie entspannt sagen konnte, ob ich toxisch weiblich bin oder nicht.

taz: Würdest du dich heute als toxisch weiblich bezeichnen?

Fritz: Ja, auf jeden Fall! Und davon geht mein Buch ja auch aus. Ich will niemanden beschämen, ich will auch keine Deutungshoheit über den Begriff besitzen. Ich glaube, dass sich der Begriff formt, wenn sich viele Frauen dazu äußern.

taz: Du beschreibst toxische Weiblichkeit anhand von fünf Prototypen. Da gibt es das „gute Mädchen“, „die Power­frau“, „das Opfer“, „die Mutti“ und „die Bitch“. Das klingt erst mal nach frauenfeindlichen Klischees.

Fritz: Also nur mal so: Die Prototypen sind keine realen Frauen, sondern kulturelle, misogyne Fremdbezeichnungen und Zuschreibungen, die uns seit Jahrhunderten begleiten. Sie zu überzeichnen hat mir geholfen, Ängste, Ambivalenzen oder Anpassungsstrategien sichtbar zu machen, für die es sonst wenig Sprache gibt.

taz: Wie kamst du auf die Prototypen?

Fritz: Ich habe super viel recherchiert, gelesen und geschaut. Ich habe untersucht, welche weiblichen Figuren in Literatur, Popkultur und Theorie immer wiederkehren. Welche Narrative uns prägen und welche Klischees wir bis heute nicht loswerden. Daraus ergab sich diese Typologie.

taz: Und welcher Typ bist du?

Fritz: Während des Schreibens war ich stark in den Mustern des guten Mädchens gefangen …

taz: … also jemand, der keine Umstände machen will. Eine Person, die in der U-Bahn neben einem fremden Mann sitzen bleibt, obwohl sie aufstehen möchte, aus Sorge, der fremde Mann könnte sich schlecht fühlen.

Fritz: Virginia Woolf nannte dieses gute Mädchen den „Engel im Haus“. Sie schrieb, dass sie diesen Engel töten musste, um überhaupt frei schreiben zu können, weil er sie ständig zum Gefallen und zur Anpassung drängte.

taz: Und wie hat sich das bei dir entwickelt?

Fritz: Bei meinen Lesungen wurde ich immer mehr die Powerfrau …

taz: … die nur sich selbst braucht und alles allein schaffen kann.

Fritz: Genau. Das hatte eine gewisse Ironie, weil ich auf einigen Lesungen davon sprach, wie wichtig es ist, weibliche Verbundenheit und Entspannung zu kultivieren. Zeitgleich hatte ich selbst in dieser Phase kaum Zeit, mich um mein Privatleben und meine Beziehungen zu kümmern. Jetzt, würde ich sagen, werde ich immer mehr zur Bitch.

taz: In deinem Buch heißt es, dass die Bitch gesellschaftlich am negativsten gesehen wird.

Fritz: Es gibt die Klischeebitch, der manipulatives, hinterlistiges Verhalten zugeordnet wird. Diese Bitch entwickelt sich oft aus dem guten Mädchen, das ja nicht wütend sein darf und daher manipulativ agieren muss, um seinen Willen zu bekommen. Dann gibt es aber auch die feministische Bitch, die auf alles scheißt. Die sich nicht anpassen will. Da finde ich mich inzwischen am ehesten wieder. Gleichzeitig sehe ich in dem Stereotyp auch Verhaltensweisen, die wir von toxischer Männlichkeit kennen: Beschämung, Abwertung, Dominanz, Egozentrik. Für mich kann das nicht das Endziel von Feminismus sein.

taz: Du sagst, Prägungen seien sehr wichtig für die erlernten Rollen. Was hat dich zum guten Mädchen gemacht?

Fritz: Das gute Mädchen ist ein historisch gewachsenes Ideal. Frauen mussten anpassungsfähig sein, weil ihre Existenz lange von Ehe und männlicher Absicherung abhing. Das prägt bis heute. In meinem Fall kam noch die katholische Prägung dazu, mit Maria als Idealfigur weiblicher Reinheit und Hingabe. Ich war mal bei einem Kindergeburtstag, danach rief die Mutter meiner Freundin bei meiner Mutter an. Sie lobte, wie höflich ich war, weil ich beim Abspülen geholfen hatte. Und ich habe mich so gefreut. Ein braves, freundliches Verhalten gilt bis heute als Ideal, während bei Männern eher Durchsetzungsfähigkeit und Eigenständigkeit Anerkennung finden.

taz: Hast du noch Anteile des guten Mädchens in dir?

Fritz: Ja, klar. Ich trage alle Teile meiner toxisch weiblichen Prototypen in mir. Auch den des guten Mädchens.

taz: Und ist es dein Ziel, den abzulegen?

Fritz: Nö!

taz: Wieso?

Fritz: Weil diese Muster ja nicht nur Einschränkungen sind, sondern auch Ressourcen. Sie haben über Generationen das Überleben gesichert. Anpassung konnte Schutz bedeuten, Nettigkeit soziale Zugehörigkeit sichern. Heute helfen mir diese Qualitäten, Situationen sensibel zu lesen oder Krisen zu meistern. Wenn ich nicht so konsequent freundlich gewesen wäre, hätte ich auch auf das Buch sicherlich wesentlich mehr Kritik bekommen. Gleichzeitig bin ich froh, wenn in stressigen Situationen oder auf Reisen die Powerfrau in mir übernehmen kann. Es geht mir nicht darum, diese Anteile zu tilgen, sondern sie bewusst und flexibel einsetzen zu können, je nachdem, was eine Situation erfordert.

taz: Nach der Veröffentlichung deines Buches gab es auch scharfe Kritik. Dir wurde eine Schuldumkehr vorgeworfen: Du würdest Frauen eine Mitverantwortung geben für gesellschaftliche Missstände, deren Opfer sie doch sind.

Fritz: Mitverantwortung zu übernehmen bedeutet nicht, Täterstrukturen zu entschuldigen, sondern anzuerkennen, dass wir nicht nur Objekte des Patriarchats sind, sondern auch handelnde Subjekte. Diese Perspektive gibt uns Gestaltungsmacht.

taz: Das klingt, als müssten Frauen sich selbst befreien.

Fritz: Nicht ausschließlich. Aber wenn wir uns nur als Opfer sehen, blenden wir aus, dass wir auch innerhalb des Systems wirken und teils profitieren. Außerdem übersehen wir dann, dass Männer selbst oft in einer Sprach- und Emotionsarmut gefangen sind.

taz: Aber besteht dadurch nicht die Gefahr, männliche Gewalt zu entschuldigen?

Fritz: Erklären heißt nicht entschuldigen. Wir müssen Gewalt historisch und strukturell herleiten, um Wege zu finden, sie künftig zu verhindern.

taz: Du schreibst im Buch davon, dass toxische Weiblichkeit nichts rein Weibliches ist. Wie meinst du das?

Fritz: Weiblichkeit und Männlichkeit sind kulturelle Prägungen, keine biologischen Essenzen. Deshalb können auch Männer toxisch weibliche Muster übernehmen, etwa übermäßige Anpassung oder Gefallsucht. An der Münchner Filmhochschule, an der ich studiert habe, gab es weniger Bodybuilder, stattdessen kultivierten viele Verhaltensweisen, die tendenziell aus einer weiblichen Prägung kommen.

taz: Zum Beispiel?

Fritz: Ich meine Softskills: zuhören, umgänglich und nett sein. In feminisierten Räumen ist es für alle Geschlechter naheliegender, toxisch weiblich statt toxisch männlich aufzutreten.

taz: Gibt es also auch Räume, in denen Frauen toxisch männlich sein können?

Fritz: Ja voll! Vor allem in klassischen Männerdomänen. Wenn eine Frau in eine Leitungsposition kommt, in der über Jahrzehnte nur Männer waren, wird von ihr oft dieselbe Härte, Durchsetzungskraft und Dominanz erwartet. Um anerkannt zu werden, übernimmt sie dann unter Umständen toxisch männliche Muster – in dem Glauben, das sei gar nicht möglich, weil sie ja kein Mann ist. Genau da entsteht ein blinder Fleck. Machtmissbrauch ist nicht an Geschlecht gebunden.

taz: Du machst zusammen mit deiner Kollegin Christina Lehr auch Workshops zum Thema toxische Weiblichkeit. Wie kam es dazu?

Fritz: Wir nennen es heute nicht mehr Workshops. Workshop, das klingt zu sehr nach: Man arbeitet an sich, um besser zu werden.

taz: Aber geht es nicht genau darum?

Fritz: Das dachten auch die 30 Frauen, die zu unserem ersten Workshop kamen und alle ihre toxische Weiblichkeit loswerden wollten. Aber das ist nicht unser Ansatz. Wir wollen keine Selbstoptimierung, sondern Selbsterkundung. Wir bieten ergebnisoffene, absichtslose Erforschungsräume an, so heißen die Veranstaltungen inzwischen auch. Es geht darum, in einer Mischung aus Gespräch und Körperarbeit eine intakte Beziehung zu sich selbst und zu den eigenen Gefühlen aufzubauen.

taz: Auf welchen Prototyp stoßt ihr dabei am häufigsten?

Fritz: Am häufigsten begegnen wir dem guten Mädchen. Viele leiden unter diesem Muster. Sich immer angepasst zu verhalten, gibt zwar Sicherheit, aber erzeugt auch Selbstentfremdung.

taz: Und wer ist am schwierigsten zu erreichen?

Fritz: Die Powerfrau. Sie profitiert scheinbar am meisten vom System, darum ist der Zugang so schwer. Der Preis ist oft innere Leere. Sich das einzugestehen, verlangt viel. Die Powerfrau ist für unsere Veranstaltungen fast so schwer zu erreichen wie Männer.

taz: Auch Männer dürfen teilnehmen?

Fritz: Ja, unbedingt. Meist sind es zehn Frauen auf einen Mann, aber wir öffnen im Herbst auch reine Männergruppen. Willst du mitmachen? Du kannst auch Freunde mitbringen.

taz: Was würde da auf mich zukommen?

Fritz: Diese speziellen Erforschungsräume im Herbst bestehen aus zwei Abenden. Am ersten geht es darum, wieder in Kontakt mit den eigenen Empfindungen zu kommen. Am zweiten widmen wir uns explizit der Beziehung zum eigenen Körper, auch zur Vulva oder zum Penis. Dabei geht es nicht um äußere Intimität, sondern um Wahrnehmung: Welche kulturellen Bilder und Prägungen verbinden wir mit unseren Geschlechtsorganen und wie prägen sie unser Selbstgefühl?

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

taz: Wie funktioniert so ein Abend?

Fritz: Wir machen einfache Körper- und Wahrnehmungsübungen, selbstverständlich bekleidet. Statt im Außenblick zu verharren – Funktioniere ich? Wirke ich richtig? – üben wir, innerlich präsent zu bleiben und zu spüren: Was hat mein Intimbereich mir zu sagen?

taz: Ja, was denn zum Beispiel?

Fritz: Viele merken, dass sie ihren Körper, besonders Vulva oder Penis, vor allem funktional erleben, als etwas, das Leistung bringen, schön aussehen oder sonst wie Erwartungen erfüllen soll. In der Übung taucht dann oft das Überraschende auf: ein Gefühl von Scham, ein Bedürfnis nach Ruhe, manchmal auch einfach Freude am eigenen Körper. Diese unmittelbaren Empfindungen sind es, um die es geht.

taz: Wieso ist dir wichtig, dass auch Männer an den Veranstaltungen teilnehmen?

Fritz: Die Nachfrage ist da. Als wir mit den Erforschungsräumen angefangen haben, wollten wir uns erst mal auf die Arbeit mit Frauen konzentrieren. Aber Männlichkeit ist genauso von kulturellen Zuschreibungen durchdrungen wie Weiblichkeit. Männer haben oft noch weniger Räume, um das zu reflektieren, und genau da wollen wir ansetzen. Warum auch nicht? Je mehr Angebote es dafür gibt, desto besser.

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taz: Während der Arbeit an deinem Buch ist dein Bruder gestorben.

Fritz: Ja, eine Woche vor Unterzeichnung des Buchvertrags.

taz: Du hast einen Text im Spiegel darüber geschrieben. Er hat unter anderem Steroide zum Muskelaufbau genommen. Du nanntest toxisch männliche Vorstellungen und den Drang, seinen Körper zu verformen, als eine Todesursache. Wie hängt das für dich zusammen?

Fritz: Mir ging es darum zu zeigen, wie zerstörerisch männliche Körperideale wirken können. Die Vorstellung, dass ein männlicher Körper vor allem stark, hart und optimiert sein muss, führt nicht nur zu riskanten Praktiken wie Steroidkonsum, sondern ist Ausdruck einer Kultur, die Männlichkeit über Funktion und Leistung definiert. Diese Ideale sind tief verankert, aber sie werden kaum öffentlich problematisiert. Später wurde ich auch gefragt, ob ich dazu öffentlich reden möchte. Ich habe abgesagt, weil ich das nicht kann.

taz: Wieso?

Fritz: Wenn meine Familie nicht wäre, würde ich viel öfter darüber reden. Ich würde in Schulen gehen oder in Fitnessstudios aufklären, weil ich das Thema extrem wichtig finde. Aber ich bin selbst erst dabei, es besser zu verstehen und mir Wissen anzulesen. Und vor allem: Es ist meiner Familie zu nah und betrifft auch die Privatsphäre meines Bruders.

taz: Hat der Tod deines Bruders deine Sicht auf toxische Männlichkeit verändert?

Fritz: Ja, total!

taz: Inwiefern?

Fritz: Ich habe dieses Buch kurz nach seinem Tod geschrieben, im ersten Trauerjahr. Ich wurde dann sehr positiv überrascht und inspiriert von all den Frauen, die mir auf den Lesungen begegnet sind, die sich schon lange aktivistisch engagieren und bereit sind, gemeinsam ihre Prägung und ihr Verhalten zu reflektieren. Bei Männern erlebe ich dagegen eher Sprachlosigkeit und deutlich weniger solidarische Verbündungen – nichts Vergleichbares zu dem, was etwa unter Frauen in der #MeToo-Bewegung entstanden ist.

taz: Was meinst du?

Fritz: Männliche Sozialisation bringt hohe Kosten mit sich: Männer sterben im Durchschnitt früher, sie stellen die Mehrheit der Kriegstoten und sind in Gefängnissen deutlich überrepräsentiert – was heißt, dass sie zugleich Täter und Opfer von Gewalt sind. Auffällig ist, dass daraus kaum solidarische Bewegungen entstehen. Frauen haben in #MeToo kollektive Verbündung erprobt, Männer reagieren oft mit Vereinzelung.

taz: Müssen wir anders über Männlichkeit reden?

Fritz: Auf jeden Fall!

taz: Und wie?

Fritz: Derzeit dominieren Beschämungsformeln – „alte weiße Männer“, „Männer lol“. Beschämung ist aber ein Herrschaftsinstrument, sie produziert Abwehr und Verhärtung. Wenn wir Männlichkeit transformieren wollen, brauchen wir Sprache, die Reflexion ermöglicht, ohne sofort zu entwerten. Das Problem ist, dass es für unsere Volkswirtschaft attraktiv ist, wenn Frauen männlicher werden, aber nicht, wenn Männer weiblicher werden.

taz: Wieso nicht?

Fritz: Wenn Frauen männlicher werden, gibt es für sie das Versprechen, emanzipierter und erfolgreicher zu sein. Wenn Männer weiblicher werden, gibt es kein Versprechen, sondern nur die Gefahr, weicher zu sein. Sie riskieren einen Statusverlust. Das macht Veränderung so schwer.

taz: Das ist genau die Angst, die in sozialen Medien wie Tiktok unter jungen Männern geschürt wird.

Fritz: Ja. Männlichkeit wird oft nur in Abgrenzung zu Weiblichkeit definiert, nach dem Motto: Wärt ihr wie wir, gäbe es kein Problem. Aber so einfach ist es nicht. Wir brauchen ein eigenes positives Narrativ von Männlichkeit, nicht nur die Abwesenheit des Weiblichen.

taz: Wie könnte eine positive Männlichkeit aussehen?

Fritz: Das weiß ich nicht, und diese Leerstelle tut weh. Um den Schmerz nicht zu spüren, greifen jetzt mehr Menschen wieder auf ein althergebrachtes Bild von Männlichkeit zurück. Eine neue Version zu entwickeln, die Unwissenheit auszuhalten scheint zu anstrengend. Trotzdem müssen wir neue Visionen entwerfen. Das wird tatsächlich immer dringlicher.

taz: Wieso?

Fritz: Weil mit Aufrüstung und neuen Kriegen alte Männlichkeitsbilder zurückkehren, das Ideal des starken Soldaten, des Beschützers. Gleichzeitig sehen wir in der internationalen Politik eine Re-Inszenierung von Härte, Dominanz und Ressourcenausbeutung, die Männlichkeit mit Macht und Gewalt verschränkt. Diese Bilder gewinnen an Einfluss, je größer die Krisen werden. Darum erscheint mir die Auseinandersetzung mit Männlichkeit heute dringlicher denn je. Seit dem Tod meines Bruders auch für mich persönlich.

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