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Disziplin und Ekstase

Erst in der Striktheit der Formen greift Friederike Mayröcker ihren Lesern ans Herz. Die inzwischen 96-jährige Autorin hat ihr Ohr an allem, was sie umgibt. Die Frage bleibt: Wie kann in einem Text so viel Leben sein? Ein Porträt

Schreiben als Ausbreitung von Freiheit. Friederike Mayröcker im August 2020 in Wien Foto: Herbert Neubauer/APA/picture alliance

Von Klaus Kastberger

Worum geht es bei Friederike Mayröcker? Es geht um das Alter und die Jugend, um Mann und Frau, es geht um Beziehungen, erste und letzte Liebesgeschichten. Es geht um Befindlichkeiten und Empfindungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen. Vor allem aber geht es darum, dass die heute 96-jährige Wiener Autorin in ihren bislang weit mehr als 100 Büchern ein unglaublich breites Spektrum von je einzigartigen Sprachkörpern geschaffen hat. Gerade die letzten Bände zeichnen aus unmittelbarer Gegenwart gleichsam eine jede Regung und einen jeden Affekt der Schreibenden nach.

Entscheidend ist, dass diese Geflechte aus psychodynamischen Strömen nach außen hin keinerlei Zweifel darüber aufkommen lassen, dass sie nach ästhetischen Kriterien geformt sind. Das schiebt den Unsäglichkeiten traditioneller Befindlichkeitsdiskurse hier von vornherein einen Riegel vor. Die vielen Bücher der Autorin sind keine Haufen lose hingeworfener Assoziationen. Ganz im Gegenteil: Erst in der Striktheit, mit der hier Formprinzipien eingelöst werden, greift Mayröcker ihrer Leserschaft ans Herz.

Auch die Offenheit dieser Texte und die Wandlungsfähigkeit der Formen von Buch zu Buch sind keine Resultate von Beliebigkeit. Offenheit ergibt sich bei Mayröcker immer vor dem Hintergrund einer überaus klaren und vorausgängigen Vorstellung von ästhetischer Autonomie. Ohne diese Autonomie wären die Texte nichts, ohne Disziplin gibt es keine Ekstase.

Woher kommt das? Ein Restbestand avantgardistischer Vorstellungswelten hat sich hier erhalten. Nämlich die Erkenntnis, dass das Schreiben selbst nichts anderes als eine Handhabung von sprachlichem Material ist. In der jahrzehntelangen Praxis ihres Schreibens hat die Autorin die Erfahrung gemacht, dass dieses Material nun aber (und anders als manche Theoretiker der Avantgarde sich das vorgestellt hatten) kein klinisch isolierter oder etwa auch frei manipulierbarer Gegenstand ist. Nein: Das Sprachmaterial selbst besitzt für Mayröcker im Schreiben eine Art von körperlicher Lebhaftigkeit.

Verfahren der Avantgarde wurden adaptiert: Aus Collage und Montage sind Psychocollagen und Psychomontagen geworden. Auch an den vielen Worten, Wendungen und Sätzen, die Mayröcker, indem sie permanent exzerpiert und sammelt, in einer textuellen Fremde findet, hängt bei ihr immer etwas Eigenes dran. Mit ihren Quellen treibt Mayröcker ein Spiel: Manchmal verbirgt sie sie, oft zitiert sie exakt, insgesamt aber sind das alles nur Absprungrampen der eigenen Fantasie.

Vom Prozess des Schreibens berichtet Mayröcker in ihren Büchern allerkleinste Einzelheiten: Sprachfetzen fangen zu bluten an; beschriftete Zettelchen verkleben Wunden, die die Autorin sich im Schreiben schlägt. Zwei Haare, die ausgefallen und am Waschbecken gelandet sind, zeichnen in sich als eine Art Hoffnungsschimmer das stenografische Kürzel für „doch noch“ nach. Der im Entstehen befindliche Text ist wie ein Teig, der verderben kann, wenn man ihn zu lange stehen oder gehen lässt. Auf die Eigendynamik des Sprachkörpers ist im Schreiben jederzeit Bedacht zu nehmen.

Auf der Shortlist

Das aktuelle Buch

Friederike Mayröcker: „da ich morgens und moosgrün. An Fenster trete“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 201 Seiten, 24 Euro

Leipziger Buchpreis

Friederike Mayröcker steht auf der Shortlist des diesjährigen Leipziger Buchpreises. Ihre Mitkandidat*innen sind: Iris Hanika mit ihrem Roman „Echos Kammern“, Judith Hermann mit ihrem Roman „Daheim“, Christian Kracht mit seinem Roman „Euro­trash“ sowie Helga Schubert mit ihrem Erzählungsband „Aufstehen“. Verkündet wird der Preisträger oder die Preisträgerin am Freitag, dem 28. Mai, um 16 Uhr. Die Veranstaltung findet in der Kongresshalle am Leipziger Zoo statt; real anwesend sein werden die Jurymitglieder. Die Nominierten werden digital zugeschaltet. Das Publikum kann im Stream dabei sein.

Leipziger Messe

Die Leipziger Buchmesse im eigentlichen Sinn fällt dies Jahr coronabedingt aus. An ihre Stelle tritt ein großes und großteils ins Digitale verlegte Veranstaltungsprogramm. Es beginnt am 27. und geht bis zum 30. Mai. Programmübersicht unter leipziger-buchmesse.de.

Auch der neueste Prosaband „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ hat seinen selbstverständlichen Ausgangspunkt in der poetischen Gesamtexistenz der Autorin: „Man fragt mich was ist der Inhalt nämlich Schlepptau des neuen Buches“, ist darin zu lesen. Alte Fragen, neue Antworten: Schon der Titel dieses Buches entschlägt sich einer jeden Begrenzung, fliegt über grammatikalische Satzgrenzen hinweg und setzt den Punkt dorthin, wo er will. Auch kreuzt dieser Titel gleich von vornherein Prosa und Poesie, ganz so, als ob er sagen möchte: Jetzt akzeptiert die Mayröcker keinerlei Einschränkungen mehr.

Es ist auch das poetische Programm von Ernst Jandl, ihrem im Jahr 2000 verstorbenen Lebensgefährten, dem Mayröcker damit folgt. Jandl hatte die Arbeit an der Dichtung einst als eine sukzessive Ausbreitung von Freiheit definiert. Befreit von allen Lasten, die der Literatur von Rezeption und Leserschaft auferlegt sein mögen, klärt Mayröcker die Inhaltsfrage: „Ich sage ‚verzage nicht!‘ und sehe aufs Wintermeer hinaus, es geht um NICHTS und es geht um ALLES, vielleicht polyphon, es geht um Sensationen = ich meine Empfindungen.“

Eine These: Wahrscheinlich könnte man sich ein Buch wie das jüngste Werk gar nicht vorstellen, wenn es die Literatur von Mayröcker nicht gäbe. Die sprachlichen Möglichkeiten, die dieses Buch realisiert, und die Freiheit, die es sich selbst verschafft, sind Produkte jahrzehntelangen Schreibens. Nur im Schreiben kann man auf diese Formen gekommen sein. Und letztlich sagt das Buch auch selbst am besten, worum es in ihm geht: um „das böse Blut“, „das blaue Blut oder Herzblut“, um den „Knall der Verliebtheiten, Vergeblichkeiten“, um „Phantasien Tagträume“, ein „erstes Tränenvergießen“ am Morgen und vor allem geht es darum: mit „tausend Armen die Sprache locken heranlocken etwa, Schulter an Schulter“.

Seit mehr als sieben Jahrzehnten lockt Mayröcker die Sprache. Sie ist bei ihr eingefallen, die ganze Wohnung quillt von Sprachmaterial über. Im neuen Buch ebnen sich Lyrik und Prosa vollkommen ein. Als „Proeme“ bezeichnet die Autorin die fließende Form zwischen den Gattungen. „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ ist ein einziges Proem, aber es gibt noch Gliederung. Die einzelnen Einträge, meist ein bis drei Seiten lang, tragen manchmal eine Titelzeile und zeigen auffällige Schriftbilder. Übrigens macht es einen großen Unterschied, ob man diese Texte selbst liest oder – im besten Fall – von der Autorin vorgelesen bekommt. Wenn Mayröcker liest, wird alles zu einer unmittelbar wirkenden Stimme des Körpers. Bei Lesungen kann man nachvollziehen, wie sehr die Autorin damit ihr Publikum in den Bann schlägt.

Beim Selberlesen treten am Text die Marotten der Schreibung in den Vordergrund: vom wohlbekannten „sz“ über die Kursivierung und Großschreibung einzelner Worte bis hin zum spezifischen Gebrauch der Satzzeichen. Hinter die einzelnen Texteinträge setzt Mayröcker jeweils ein Datum, im neuen Buch reicht der Zeitraum von September 2017 bis November 2019. Neu ist, dass der Text jetzt in vielen Fällen auch noch hinter diesen Datierungen weiterläuft. Kleine Bemerkungen und Nachträge werden hinter die Ziffern gesetzt. Der Text lässt sich durch nichts mehr begrenzen, er läuft über, so wie ein Fass überläuft. Den Punkt als Endpunkt des Satzes hat Mayröcker (außer im Titel) abgeschafft, Beistriche stehen am Ende der Sequenzen und auch dabei doch immer mitten im Satz.

Sogleich folgtder nächste sprachliche Sturm

Das Wachstum des Textes ist potentiell ohne Ende, die Fantasie überbordend. Animiert von Durs Grünbein imaginiert die Autorin eine Lesung auf dem Mond. Beim Namen „Purkersdorf“ denkt sie an „Hirschkäfer“. Seltsame Wörter durchziehen den Text: „Syringen“, das „Modewort nature-writing“, „PENKALA“, „Päonie“ aber auch „Vollholler“. Mayröcker hat ihr Ohr an allem, was sie umgibt. Ist in ihrem Schreiben stets gegenwärtig. Schnappt Wörter und Phrasen auf, verhört und verliest sich. Hat im Schreiben kaum Zeit, manche Wörter auszuschreiben, setzt jg. für jung, lg. für lang, kl. für klein, gr. für groß und frz. für französisch.

Der Text gibt sich als eine Mitschrift von Gedanken, die schneller sind als das eigene Schreiben. Aber noch vor dem Gedanken steht bei Mayröcker der Satz, der ihn trägt. Mit lautlichen Anklängen wird das Heterogene geglättet und mit poetischen Sirenentönen das Gesetzte verjagt. Der Text heult auf, gibt sich jugendlich-ungestüm. Kommt er in einer Wendung zur Ruhe, folgt sogleich der nächste sprachliche Sturm, das nächste Capriccio, die nächste hochfliegende Wendung. Ein Changier-Bild entsteht: das Porträt einer Dichterin, die an sich selbst alles preisgibt und die Sprache, inmitten derer sie lebt, doch noch einmal auf ungeahnte Himmelsbahnen katapultiert.

Wie kann in einem Text so viel Leben sein? Wie schafft es die Autorin, aus der äußeren Ereignislosigkeit eines Lebens so viel zu machen? Die Stofflosigkeit des Schreibens wird in diesem Buch zur eigentlichen poetischen Sensation. Vielleicht könnte man sagen: Darum geht es.

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