Schriftsteller über die Große Koalition: „Das ist keine Politik“
Soll die SPD sich für eine Koalition mit der Union entscheiden? Der Schriftsteller Ingo Schulze antwortet in einer kurzen, persönlichen Geschichte.
Gestern Mittag klingelte Frau M. an meiner Tür, wir wohnen im selben Haus. Wenn ich nicht da bin, kümmert sie sich um meine Post. Auf meine Begrüßung antwortete sie nicht gleich, sondern sah mich mit leicht gesenktem Kopf an. „Wollen Sie herein kommen?“, fragte ich.
„Ich ziehe meine Stimme zurück!“, verkündete sie. „Löschen Sie meinen Namen von diesem Aufruf!“
„Wollen Sie nicht doch herein kommen?“
„Nein, löschen Sie meinen Namen!“
„Darf ich fragen, warum? Finden Sie die Große Koalition jetzt doch richtig?“
„Ich will mit denen nichts mehr zu tun haben, gar nichts mehr!“
„Aber?“, sagte ich, ohne weiter zu wissen.
Hier geht es zur „Koalition der Kaputten“.
„Ich schreibe denen keine Briefe mehr, schon gar keine Liebesbriefe!“, rief sie.
„Aber der Aufruf wider die Große Koalition ist doch kein ...“
„Doch!“, beharrte sie. „Vielleicht ein bitterer Liebesbrief, aber immer noch ein Liebesbrief! Da ist noch immer so ein Glauben an diese Partei – nein! Träumen Sie allein weiter. Ich will meine Unterschrift zurück!“
Noch bevor ich etwas erwidern konnte, marschierte Frau M. bei mir ein und forderte mich auf, die Rede von Steinmeier vom 19. November auf dem Arbeitgebertag im Netz zu suchen. „Minute 17“, dekretierte Frau M..
Bekannt wurde Ingo Schulze als Schriftsteller und erlangte mit seinem Roman „Neue Leben“ 2005 den Zusatz Wende-Schriftsteller. Geboren 1962 in Dresden und aufgewachsen in der DDR, hat Schulze auch in seinen anderen Büchern wie „Simple Stories“ den Osten Deutschlands und das Russland nach dem politischen Umbruch als Schauplatz seiner Geschichten gewählt. Mit anderen Autoren, Künstlern und Theologen hat Schulze den Aufruf gegen die Koalition von SPD und Union gestartet.
Dr. Frank-Walter Steinmeier sprach: „Wenn Sie sich in gerechter Weise zurückerinnern, dann hat es eigentlich die entscheidenden Steuersenkungen, und zwar in einem Volumen von mehr als 60 Milliarden Euro, unter einer sozialdemokratischen Regierung gegeben. Mit der Senkung des Spitzensteuersatzes, mit der Senkung des Eingangsteuersatzes, mit der Senkung der Unternehmenssteuern. Sie haben bis dahin ihre Kapitalsteuern, ihre Kapitalzinsen nach dem Einkommenssteuergesetz bezahlt, und seit der Zeit nur noch für die Hälfte ungefähr nach dem Abgeltungssteuergesetz, das war damals immerhin sozialdemokratische Steuerpolitik. Und ich finde bis heute ist das nicht so ganz schlecht.“ (Applaus!)
„Aber das ist doch nicht neu!“, sagte ich und beendete das Video.
„Ja, aber dass er das jetzt noch gut findet! Nichts gelernt! Diese Anbiederung! Worauf hoffen Sie denn? Haben Sie von denen etwas zum Freihandelsabkommen gehört, das unser Leben verändern wird? Oder zu unserer Enteignung durch die niedrigen Zinsen, die jene treffen, die nicht spekulierten? Etwas vom Krieg gegen den Terror, vom Elend der Griechen, bei denen mehr als ein Drittel keine Krankenversicherung mehr haben, nichts von dieser Umverteilung von unten nach oben, natürlich nicht, nichts gegen die Wachstumsideologie – das ist?“ Frau M. schüttelte den Kopf.
„Was ist das?“, fragte ich.
„Keine Politik ist das!“
„Aber der Mindestlohn und die doppelte Staatsbürgerschaft und all diese neuen Errungenschaften“, fragte ich scheinheilig.
Frau M. sah mich voller Verachtung an. „Das und viel mehr hätten sie doch in anderen Konstellationen mit links geregelt. Außerdem hat die Inflation den Mindestlohn schon wieder aufgefressen, wenn er dann kommt. Und was glauben Sie, wie die jetzt durchregieren werden, keine Untersuchungsausschüsse, die sie nicht selbst beschließen, kein Widerspruch im Bundesrat, und für die Zukunft alle Bündnisse jenseits von Merkel vermasselt!“
Frau M. kam immer mehr in Fahrt. „Die wissen doch selbst nicht mehr, was sie wollen. Sie haben kein politisches Selbstbewusstsein mehr, genauso marktkonform wie Merkel, immer nur Wachstum, Wachstum. Unsere Gesellschaft hat kein Wachstumsproblem, sondern ein Gerechtigkeitsproblem. Und diese Angst, als vaterlandslose Gesellen zu gelten! 24 Jahre nach dem Mauerfall getrauen sie sich nicht, auch nur mit den Linken zu reden. Lassen sich von denen, die sich ihre Blockflöten samt Liegenschaften und Vermögen einverleibt haben, am Nasenring vorführen. Und für solche Waschlappen noch einen Finger rühren?“
„Ich streiche Sie nicht von der Liste!“, unterbrach ich sie schließlich. Frau M. starrte mich an. Ich hatte ihr noch nie widersprochen.
„Wieso?!“, knurrte sie.
„Weil Sie recht haben! Deshalb.“ Etwas später verabschiedeten wir uns dann voneinander.
Leser*innenkommentare
Gastinchen
Gast
Im Wahlkampf haben SPD und Grüne beide feierlich versprochen nicht mit "Die Linke" zu koalieren
Allein das eingehen einer solchen Koalition wäre schon ein
gebrochenes Wahlversprechen
Ich halte zwar Politiker ohnehin für Lügner und Betrüger, aber man muss ja nicht gleich von Anfang an so offensichtlich lügen und betrügen
Ulrich Wegener
"Rot-Rot-Grüne Koalition und Regierung ab 2013
von Ulrich-Wegener 2012-09-12 – 22:11:35
BITTE MIT ALLEN TEILEN, SO ÖFFENTLICH WIE NUR IRGEND MÖGLICH MACHEN: DENN ES IST AN DER ZEIT UND ES IST ALLERHÖCHSTE ZEIT!
SOZIALDEMOKRATINNEN UND SOZIALDEMOKRATEN:
WIR SCHAFFEN DAS MODERNE DEUTSCHLAND, IN EINEM MODERNEN EUROPA! GEMEINSAM, MIT ALLEN BÜRGERINNEN UND BÜRGERN.
SozialistInnen in der SPD müssen für eine rot-rot-grüne Koalition und Bundesregierung eintreten, von der SPD, der Die Linke und der Die Grünen fordern, 2013 aus einer rechnerischen eine politische Mehrheit ohne und gegen Union und FDP zu machen.
Alles andere - eine Große Koalition ohne notwendig zu sein - wäre ein erneuter Verrat der drei Parteien wie 2005 an den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland.
Das müssen SozialistInnen in der SPD spätestens ab heute klar und deutlich sagen und fordern. Für den wahrscheinlichen Wahlausgang 2013, dass die SPD auch mit den Die Grünen keine Mehrheit, zusätzlich mit der Die Linke aber die Mehrheit hat. Das dürfen die drei Parteien SPD, Die Grünen, Die Linke deshalb nicht schon vor der Wahl ausschließen.
Selbstverständlich wollen SozialistInnen immer eine eigene Mehrheit ihrer SPD oder eine Mehrheit mit so wenig anderen Parteien wie möglich. Das ist für 2013 leider noch auszuschließen, beinah unwahrscheinlich.
Machen Sie bitte Vorschläge in der Gruppe SOZIALISTINNEN IN DER SPD - https://www.facebook.com/pages/SozialistInnen-in-der-SPD/143742682422832 -, wie und durch was diese selbstverständliche Forderung koordiniert propagiert werden kann. Um zu einer Selbstverständlichkeit in Deutschland zu werden.
SOZIALDEMOKRATINNEN UND SOZIALDEMOKRATEN:
WIR SCHAFFEN DAS MODERNE DEUTSCHLAND IN EINEM MODERNEN EUROPA! GEMEINSAM, MIT ALLEN BÜRGERINNEN UND BÜRGERN."
Ulrich Wegener
Dem Herrn Schriftsteller Ingo Schulz und seiner lieben, zu Recht Steinmeier kritisierenden Nachbarin erlaube ich mir zur Kenntnis zu bringen:
"SPDinfo 161 - 20131128
Heute hat Franziska Alwes,1920 -1996, Sozialistin der BS-Rautheim-SPD Geburtstag. Noch auf Erden fluchte diese seit Kindheit einarmige Frau aus Schlesien, dass folgender Aufruf vom September 2012 (!) nicht politische Praxis wurde.
Knallte diesen (in weiteren Kommentaren) Aufruf jedem SPD-Mitglied und allen DemokratInnen nicht ohne Wut auf den Tisch, die heute für eine Ablehnung der Großen Koalition beim auch von ihr als überfälligst geforderten Mitglieder-Entscheid agitieren, ohne spätestens ab Herbst 2012 aktiv gewesen zu sein: "Habt Ihr denn noch alle Tassen im Schrank?"
gast
Gast
Der schmerzhafte Weg über die GroKo muss sein. Anders ist Erkenntnis, aus der vielleicht dann doch mal ein sinnvolles Handeln erwächst, nicht möglich. Es ist ev.(!) der Beginn der Gesundung dieses Landes. Könnte aber auch gut sein, dass wir hier lediglich den langweiligen aber sehr wirkungsvollen Schritt in Richtung Demontage sehen.
Leider weiß ich, was kommen wird.
lowandorder
Gast
„Wieso?!“, knurrte sie.
„Weil Sie recht haben! Deshalb.“
ja - mehr gibt es dazu auch nicht zu sagen;
es ist so bitter, daß der gute kluge
Sebastian Haffner Der Verrat -
so recht hat und das schon so lange.
reblek
Gast
"Wollen Sie herein kommen?" - "Aber?", sagte ich, ohne weiter zu wissen. - Es handelt sich um ein Märchen, das unter den Schreibenden in diesem Land umgeht, dass nämlich die zusammengeschriebenen Wörter abgeschafft seien. Sogar der Duden, der in dieser Hinsicht nicht immer das Sinnvolle rät, empfiehlt "hereinkommen" und "weiterwissen". Liest eigentlich niemand von unseren Schriftsteller(inne)n ihren/seinen Text mal laut, um festzustellen, dass "herein kommen" ebenso unsinnig ist wie "weiter wissen"?
widerborst
Gast
achduscheißenocheins
- hab ich auch schon bemerkt;
aber - nicht dabei der Gefangene seiner eigenen Planquadrate und seinem Kisten-und-Kasten-Denken werden;-))
Ingo Schulz erzählt eine Geschichte und läßt mit diesen Sätzen die Personen plastisch werden;
- auch gerade durch die Schreibweise!
Zusammen- und/oder Auseinandergeschrieben sind schlicht zwei verschieden paar Stiefel!
=> Ich sach mal "gestandene Sozialdemokratin alter Schule", die er nicht soo gut kennt;
durch das Auseinanderschreiben wird das deutlich: - liegt dann doch die Betonung auf "herein" und "weiter";
anders gewendet - bei einem Nachbarkind mit veganer Mutter, der zögert, sich wie jeden Morgen ne Schmalzknifte zu schlauchen, ist ein:
" is ok, - kannstereinkommen..."
angebracht;
un ahls wigger.