piwik no script img

Schriftsteller Altıntaş über Trauer„Ich bin mit bestimmten Männlichkeitsbildern aufgewachsen“

Der Schriftsteller Fikri Anıl Altıntaş setzt sich in seinem Roman mit dem Tod seiner Mutter auseinander und wie Trauer patriarchal geprägt ist.

Der Krebs eines Angehörigen verändert das Selbstbild: Schriftsteller Fikri Anil Altintas Foto: Steve Braun

Interview von

Finn Sünkler

taz: Herr Altıntaş, Ihr Roman heißt „Zwischen uns liegt August“. Was ist im August passiert?

Fikri Anıl Altıntaş: Der August bezeichnet einen emotionalen Zwischenraum. Im August beginnt und endet das Buch. Und zwischendrin bewegt sich die Geschichte, weil die Mutterfigur im August geboren wird und an Bauchspeicheldrüsenkrebs stirbt.

taz: Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?

Altıntaş: Ich verstehe das Buch vor allem als Trauerbewältigung. Ich habe im Schreibprozess viel Trauer durchlebt. So konnte ich nicht nur eine idealisierte Beziehung zu meiner Mutter darstellen, sondern auch den Raum ausfüllen, den ich in meiner Beziehung zu ihr aufgrund von Unsicherheit oder Zurückhaltung nie eingenommen habe. Gleichzeitig arbeite ich die patriarchalen Flecke in unserer Beziehung auf. Es bewegt sich letztlich zwischen einerAufarbeitung und Liebeserklärung an meine Mutter.

Im Interview: Fikri Anıl Altıntaş

geboren 1992, Publizist, Schriftsteller und HeForShe-Botschafter von UN Women Deutschland, schreibt über Antifeminismus und die (De-)Konstruktion von nicht-weißen, muslimisch gelesenen Männlichkeiten, sein aktuelles Buch „Zwischen uns liegt August“ folgt auf sein Debüt „Im Morgen wächst ein Birnbaum“

taz: Was hat sich seit der Diagnose in Ihrer Familie verändert?

Altıntaş: Es zerbricht sehr viel, aber gleichzeitig kann es eine Chance sein, Familienstrukturen auch nochmal auf einen gesünderen Umgang in der Kommunikation aufzubauen. Beim Schreiben des Buchs habe ich verstanden, dass Krebs nicht nur die erkrankte Person betrifft, sondern auch in der Familienstruktur Metastasen bildet.

taz: Inwiefern?

Altıntaş: Der Krebs existiert nicht nur körperlich. Er verändert auch spirituell, psychisch und physisch alles. Studien zeigen, dass eine Krebserkrankung für Betroffene und Angehörige gleichermaßen belastend sein kann. Erst jetzt verstehe ich, wie stark sich dadurch auch das eigene Selbstbild verändert, wie sehr Krankheit und Verlust körperlich und seelisch prägen.

taz: In Ihrem Roman fällt auf, dass Vater und der Ich-Erzähler ihre Trauer sehr still verarbeiten. Trauern Männer anders?

Altıntaş: Es hängt immer davon ab, welche Beziehung man zu seiner Mutter und zu seinem Vater hatte. Ich bin mit bestimmten Männlichkeitsbildern aufgewachsen. In diesen mussten Wut, Enttäuschung oder Verzweiflung oft allein bewältigt werden. Das prägt. Das Spannende daran war für mich, diese Trauer nicht nur zu beschreiben, sondern auch ihre Existenz anzuerkennen. Studien zeigen, dass Männer in emotionaler Bildung weniger gefördert werden.

taz: In Ihrer Geschichte ist Heimat ein schwebender Begriff. Glauben Sie, dass es zwei Heimaten geben kann oder vielleicht etwas dazwischen?

Lesung

Lesung „Zwischen uns liegt August“. Freitag, 7.11., 19 Uhr, Zentralbücherei Kiel, Andreas-Gayk.-Straße 31, Eintritt ist kostenfrei, aber mit Anmeldung

Altıntaş: Für mich ist Heimat ein gedanklicher Zwischenraum, der nicht manifestiert sein muss. Auch für hier geborene Menschen mit Einwanderungsgeschichte existieren solche Zwischenräume. Bei meiner Mutter kann ich verstehen, dass sie die Türkei vermisst. Sie ist dort aufgewachsen. Ihre Erinnerungen sind dort verwurzelt. Gleichzeitig teilen wir Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland. Dadurch entsteht auch eine Verbindung zwischen uns. In Zeiten von Diskriminierung und politischer Gewalt ist es wichtig, etwas festhalten zu können. Wenn es Heimat ist, dann kann ich mit diesem Begriff anfreunden.

taz: Die Mutterfigur Mürüvvet erlebt in den 1970er Jahren eine Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs in der Türkei – geprägt von Hoffnung, Protesten undwachsender Unsicherheit. Wie schauen Sie auf die aktuelle politische Situation in der Türkei?

Altıntaş: Viele der heutigen Konfliktlinien haben in der türkischen Gesellschaft bereits in den 1970er Jahren ihren Ursprung. Diese Spannungen, die sich aus religiösen, konservativen oder liberalenEinstellungen ergeben, ziehen sich bis heute durch. Die Türkei ist ein sehr polarisiertes Land, in dem politische Figuren stark idealisiert werden und die Politik stark personalisiert ist. Das begann schon mit Atatürk und hat mit Erdoğan eine ähnliche Dimension erreicht. Das halte ich für problematisch. Wir leben auch immer noch in einer Gesellschaft, die nicht wirklich frei ist: Es gibt Angriffe auf die Meinungsfreiheit; marginalisierte Gruppen wie Alevit*innen oder Kurd*innen sind davon besonders betroffen. Trotz allem habe ich noch Hoffnung in die türkische Zivilgesellschaft, die sich nicht entmutigen lässt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare