Schließzeiten Öffentlicher Bibliotheken: „Räume der Begegnung“
Öffentliche Bibliotheken bleiben sonntags geschlossen. Kirsten Kappert-Gonther, Bundestagsabgeordnete der Grünen, möchte das jetzt ändern. Ein Gespräch.
taz: Frau Kappert-Gonther, warum wollen Sie sich dafür einsetzen, dass die deutschen Bibliotheken sonntags geöffnet haben können?
Kirsten Kappert-Gonther: Der Sonntag ist der Tag, an dem die Menschen Zeit haben, an dem die Familien zusammen sind, aber an dem auch manche Menschen, gerade Menschen mit wenig Geld, einsam sind. Denen fällt am Wochenende die Decke auf den Kopf. Es ergibt keinen Sinn, dass die Bibliotheken ausgerechnet an diesem Tag geschlossen haben müssen.
Was könnten die Bibliotheken am Sonntag bieten?
Die Chance auf analoge Begegnungen, anders als im digitalen Raum, in dem wir uns zunehmend in Filterblasen bewegen. Solche Begegnungen sind individuell für die Menschen von hohem Wert, aber sie sind auch gesellschaftlich wichtig, wenn man über den Zusammenhang von Gesellschaft nachdenkt. Meine Grundidee besteht darin, in den Bibliotheken Orte der Begegnung zu schaffen, so etwas, was früher die öffentlichen Marktplätze waren.
Was meinen Sie damit?
Ganz einfach: Alle kommen zusammen. Es geht also nicht um den Marktplatz im Sinne eines Verkaufsorts, sondern im Sinne eines Begegnungsorts. Bibliotheken sind Orte der Begegnung, nämlich der mit sich selber, da wir uns über ein kulturelles Medium selbst begegnen können, der eigenen Familie und Menschen, denen man sonst nicht begegnet wäre.
51, ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie war Mitglied der Bremischen Bürgerschaft. Seit 2017 sitzt sie für die Grünen im Bundestag.
Ich habe allerdings auch Erinnerungen an streng blickende Bibliothekarinnen.
Ich nicht. Aber Ihre Skepsis wird sich bei vielen Menschen finden. Dafür, dass Bibliotheken so viel Potenzial haben, haben sie noch nicht die positive Wahrnehmung, die sie haben könnten.
Sie trauen Bibliotheken viel zu.
Aber ja. Wir sind mit unseren Kindern früher viel in Bibliotheken gegangen. Ich habe die Kinder im Studium bekommen, da waren wir sehr knapp mit dem Geld. Die Bücherkisten waren sehr wichtig. Aber vor allem habe ich die gemeinsame Zeit in den Bibliotheken als sehr schön in Erinnerung. Außerdem: Man musste sich nicht anmelden, und die Jahreskarte für die Familie hat nur 20 Euro gekostet. Später als Psychiaterin habe ich solche guten Erfahrungen viel geschildert bekommen, insbesondere von Menschen, die im Zuge ihrer psychischen Erkrankungen häufig einsam waren. Sie erzählten mir: Keiner fragt mich, warum ich hier bin, hier kann ich den ganzen Tag sitzen, und ich sehe Menschen, denen ich sonst nicht begegnet wäre. Dieser Begegnungsaspekt ist mir stark gespiegelt worden.
In Bremen haben Sie schon Erfahrungen mit der Sonntagsöffnung machen können.
Zusammen mit der Leiterin der Stadtbibliothek, Barbara Lison, die inzwischen Vorsitzende des Bibliotheksverbandes ist, haben wir ein Modellprojekt etabliert – auch gegen gewisse Widerstände der Gewerkschaften. Das Projekt war, ich muss es einfach so sagen, toll.
Was hat es beinhaltet?
Natürlich waren nur freiwillige Mitarbeiter sonntags vor Ort. Und das Besondere war: Es haben sich nicht nur genug Freiwillige gemeldet, sondern die, die sich einmal gemeldet haben, haben das danach auch immer wieder getan. Auf einmal herrschte eine ausgelassene Lebendigkeit in der Bibliothek.
Ausgelassene Lebendigkeit in Bibliotheken?
In Bremen hat es sehr gut funktioniert. Die Bibliothek im dänischen Aarhus ist ein gutes Vorbild. Die Bibliothek ist dort erst einmal als ein Ort der Begegnung definiert, und innerhalb dieses Ortes gibt es individuelle Rückzugsinseln. Das kann beides zusammengehen, stille Rückzugsräume, aber auch Tische mit sechs oder acht Stühlen drum herum, an denen Jugendliche, die kein eigenes Zimmer haben, zusammen ihre Referate vorbereiten. Seit viele Geflüchtete nach Bremen gekommen sind, sind die Bibliotheken auch ein Ort, an dem Ehrenamtliche Nachhilfe anbieten. Diese Mischung zwischen Stille und Begegnung – das ist auch ein Unterschied zu den Bibliotheken, die ich in meiner Kindheit erlebt habe. Damals musste man ja quasi noch auf Zehenspitzen laufen.
Zum 200. Geburtstag des großen Ökonomen, Denkrevolutionärs und Genussmenschen: Eine Sonderausgabe zu Karl Marx, mit 12 Seiten – in der taz am wochenende vom 5./6.Mai 2018. Außerdem: Vor einem Jahr zog "En Marche" ins französische Parlament ein. Die Partei wollte Bürger stärker an der repräsentativen Demokratie beteiligen. Haben die Partei und Emmanuel Macron ihr Versprechen erfüllt? Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Dass Bibliotheken sonntags geschlossen sein müssen, regelt das Arbeitszeitgesetz. Es besagt: „Arbeitnehmer dürfen an Sonn- und Feiertagen von 0 bis 24 Uhr nicht beschäftigt werden.“ Inwieweit wollen Sie das ändern?
Der Paragraf 10 dieses Gesetzes regelt ja die Ausnahmen. Im Absatz 7 dieses Paragrafen werden etwa Vergnügungseinrichtungen, Museen und auch wissenschaftliche Präsenzbibliotheken zu diesen Ausnahmen gezählt. Man müsste die Wörter „wissenschaftlich“ und „Präsenz“ streichen und hätte die Bibliotheken insgesamt zu den Ausnahmen gezählt.
Sie haben eben von Widerständen der Gewerkschaften erzählt …
Es ist mir auch sehr wichtig, an diesem Punkt nicht falsch verstanden zu werden. Das Arbeitszeitgesetz ist ein ArbeitnehmerInnenschutzgesetz, und das ist auch sehr wichtig und richtig so. Ich bin sehr für ArbeitnehmerInnenrechte, ich finde auch die Gewerkschaften richtig wichtig, und ich finde es auch wichtig, dass die Arbeitszeiten nicht exorbitant ausufern, allein wegen der seelischen Gesundheit, die ja mein Fachgebiet ist. Ich meine aber, dass man die individuellen Schutzrechte einerseits und den Wert und Vorteil, den es hätte, wenn man Bibliotheken sonntags öffnet, abwägen muss. Und ich komme nicht generell, aber an diesem Punkt zu der Auffassung: Das öffentliche Interesse daran, Bibliotheken sonntags zu öffnen, ist so groß, dass es gerechtfertigt wäre, an der Stelle das Arbeitszeitgesetz zu ändern.
Aber bröckelt der Sonntagsschutz für ArbeitnehmerInnen nicht sowieso schon genug?
Da haben Sie recht. Für mich ist es allerdings ein Unterschied, eine Bibliothek am Sonntag zu öffnen oder Konsumangebote zu machen. Verkaufsoffene Sonntage, Kirschblütenfest und solche Dinge, das leuchtet mir viel weniger ein.
In Berlin hat man insgesamt den Eindruck, dass öffentliche Räume unter Druck stehen. Gleichzeitig boomen privat organisierte Angebote wie Coworking Spaces.
Kirsten Kappert-Gonther
Für die jungen Start-ups, ja. Diese Verschiebung von den öffentlichen Räumen in die privaten Räume findet in vielen Regionen statt. Mit ihnen werden die Zugangshürden höher, man muss schließlich Geld mitbringen, um sich in einem Coworking Space einen Slot zu kaufen, und zugleich entstehen wie im digitalen Raum auch Filterblasen, in denen man nur die eigene Community trifft. Aber das alles zeigt doch auch, dass es ein Bedürfnis nach Begegnungsräumen gibt. Und ich plädiere für Begegnungsräume, die niederschwellig und öffentlich zugänglich sind.
Nun werden Bibliotheken weiterhin nicht so sehr mit Begegnung, sondern stark mit Büchern verbunden.
Oh, ich bin emotional ganz dicht am Buch.
Sie lesen? Auch Romane?
Gerne. Deshalb schlafe ich auch zu wenig. Ich finde aber, dass Bibliotheken auch dann einen Wert haben, wenn die Menschen sich eine CD oder eine DVD ausleihen oder wenn sie die internationalen Zeitungen lesen. Und ich finde, Menschen können auch in Bibliotheken gehen und sich dort treffen. Wenn es gelingt, Bibliotheken als Orte der Begegnung zu etablieren, gehe ich schon davon aus, dass ein Großteil der Besucher sich auch noch mal ein Buch mitnimmt. Aber ich würde es nicht daran knüpfen.
Müssten die Bibliotheken nicht ihr Selbstbild ändern?
Nicht alle. Viele Bibliotheken sind bereits auf dem Weg und machen viele Angebote wie etwa das sogenannte Kleinkindkino, das eben keineswegs bedeutet, einen Film zu gucken, sondern, sich gemeinsam Bilderbücher anzusehen, oder gezielte Veranstaltungen für Ältere. Der Deutsche Bibliotheksverband ist sowieso unheimlich innovativ. Auf Bibliothekare, die es schrecklich finden, wenn Menschen kommen, um etwas zu entleihen, bin ich seit vielen Jahren nicht mehr gestoßen.
Sie sprachen von Freiwilligkeit. Aber kann nicht auch ein interner Druck auf die ArbeitnehmerInnen entstehen?
Klar, da muss man gar nicht drum herumreden, das kann im Einzelfall auch mal anders sein. Die Möglichkeit der Sonntagsöffnung ist durchaus ein substanzieller Eingriff. Ich halte nur den Beitrag, den eine Bibliothek am Sonntag leisten kann, für so relevant, dass ich meine, an der Stelle ist das gerechtfertigt. Mir wäre ganz wichtig, die Menschen mit ins Boot zu holen, die berechtigtes Interesse haben, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen.
Das Arbeitszeitgesetz ist ein Bundesgesetz. Wenn man das ändert …
… wären die Bibliotheken keineswegs verpflichtet, sonntags zu öffnen, aber die, die es möchten, könnten das.
Bis wann könnten Sie mit Ihrem Vorstoß durchkommen?
Meine Prognose ist, dass es noch eine ganze Zeit dauern wird, diese Diskussionen zu führen, mit den anderen Fraktionen und auch den Gewerkschaften. Manchmal gibt es allerdings Zeitfenster, in denen vernünftige Argumente auf fruchtbaren Boden fallen. Vielleicht ist das in Sachen der Sonntagsöffnung ja jetzt so ein Moment.
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