Schließung der Haasenburg-Kinderheime: Breite Kritik an Haasenburg-Urteil
Große Landstagsmehrheit in Brandenburg will Entschädigung der Haasenburg-Opfer. Die Heim-Schließung 2013 sei zum Schutz des Kindeswohls nötig gewesen.
Das Verwaltungsgericht Cottbus hatte den Fall Ende November nach zehn Jahren Pause entschieden. Das Gericht erklärte, der 2013 durch die brandenburgische Bildungsministerin Martina Münch (SPD) erfolgte Widerruf der Betriebserlaubnis sei „rechtswidrig“ gewesen. Somit könnte der Betreiber sogar Schadenersatz einklagen. Das Gericht vollzog damit eine 180-Grad-Wende zu früheren Entscheidungen in einem Eilverfahren und verbot zugleich dem Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (MBJS), in Berufung zu gehen.
Dennoch ist die Sache nicht rechtskräftig entschieden. Denn das MBJS kann gegen ebenjenes Berufungsverbot vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg klagen. Laut einer Sprecherin wird das Ministerium darüber erst dann entscheiden, wenn die schriftliche Urteilsbegründung aus Cottbus vorliegt, was noch nicht der Fall ist.
Der Antrag der Linksfraktion zielte genau darauf ab und fordert die Landesregierung dazu auf, gegen das Urteil vom 23. November Rechtsmittel einzulegen. Denn dieser Richterspruch sei ein „herber Rückschlag für die Betroffenen“, insbesondere weil individuelle Entschädigungsanträge der Opfer mit Verweis auf diesen Prozess auf Eis gelegt wurden. „Wir wollen ein Signal aus dem Landtag setzen, dass wir komplett an der Seite der ehemaligen Jugendlichen stehen“, sagte Linke-Abgeordnete Isabell Vandre.
Aktionsbündnis „fassungslos“
In Brandenburg regiert eine „Kenia-Koalition“ aus SPD, CDU und Grünen. Gefragt, wie sie zu dem Linken-Antrag stehen, kündigten die drei Fraktionen promt ihren eigenen Antrag an. „Dieses Urteil empfinden die Betroffenen, die viel Leid erfahren haben, als Schlag ins Gesicht“, sagt Grünen-Fraktionschefin Petra Budke. Das Urteil habe sie, „gelinde gesagt, überrascht“. Auch CDU-Jugendpolitikerin Kristy Augustin sprach von einem „herben Rückschlag“ für die ehemals dort untergebrachten Kinder und Jugendlichen.
Der Kenia-Antrag, der seit Dientag nun vorliegt, stärkt Brandenburgs Jugendminister Steffen Freiberg (SPD) den Rücken, gegen das Urteil alle verfügbaren Rechtsmittel auszuschöpfen. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der aufgeworfenen Rechtsfragen „für ganz Deutschland“ und der Wirkung für die betroffenen Kinder spreche „Vieles dafür“. Ferner bestärkt der Landtag in dem Antrag erneut ausdrücklich sein Bedauern für „das Leid der ehemaligen Kinder und Jugendlichen, die in den Einrichtungen der Haasenburg GmbH untergebracht waren“ und zählt auf, was Brandenburg seither unternahm, um selbiges zu verhindern.
Der Landtag fordert sodann seine Regierung auf, sich in der Bundes-Jugendministerkonferenz für die Prüfung eines „länderübergreifenden Entschädigungsfonds“ stark zu machen, für „ehemalige Kinder und Jugendliche, denen seit 1990 institutionelle Gewalt in Einrichtungen der Erziehungshilfen widerfahren ist“. Brandenburgs Regierung soll auch prüfen, ob so ein Fonds konkret auf Kinder und Jugendliche zugeschnitten werden kann, die „in einer Einrichtung eines bestimmten Trägers“ – sprich in der Haasenburg – waren.
Linke-Politikerin Vandre begrüßt den Antrag der Kenia-Fraktion. Ihre Fraktion werde sich dem wahrscheinlich anschließen. Sie bedauerte nur, dass ihrem Antrag nicht in dem Punkt gefolgt wurde, Brandenburg möge als für den Skandal verantwortliches Bundesland einen eigenen Entschädigungsfonds für Haasenburg-Opfer einrichten. „Dieser wäre realistischer als die Forderung nach einem bundesweiten Fonds“, sagte sie.
„Fassungslos zur Kenntnis“ genommen haben das Urteil auch das „Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung“ und die „Bundesarbeitsgemeinschaft Kindheit und Jugend“ der Linken. Sie haben eine Stellungnahme verfasst, die binnen 24 Stunden von 14 Organisationen und über 100 Fachleuten unterzeichnet wurde, darunter die Gedenkstätte zum DDR-Jugendwerkhof Torgau und ehemalige Haasenburg-Kinder.
Die Begründung des Gerichts, dass das Wohl der Kinder damals nicht gefährdet gewesen sei, „weisen wir in aller Deutlichkeit vor dem Hintergrund der Geschehnisse zurück“, heißt es in der Stellungnahme, die auch online unterzeichnet werden kann. Die Autoren drängen ebenfalls darauf, das Verfahren in die nächste Instanz zu bringen und zu revidieren sowie die Opfer der institutionellen Gewalt in diesen Heimen zu entschädigen.
Anmerkung der Redaktion: Die Artikel wurde nach Erscheinen im ersten Absatz sowie in den Absätzen sechs bis neun um die Inhalte des Antrags der Kenia-Koalition, der bei Erscheinen des Artikel noch nicht vorlag, aktualisiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles