■ Schlagloch: "Mir ist der Grass lieber als brennende Häuser" Von Friedrich Küppersbusch
„...Wiederanschluß an die Tiefenerinnerung...“ Botho Strauß im „Spiegel“, anno dunnemals.
Was wollte der Dichter uns damit raunen? Vielleicht, daß man nach dem Tauchurlaub noch lange Freude an den Dias haben kann? Daß man erst im dullen Kopp wieder so auf allen vieren denkt, wie dereinst in Säuglingstagen? Daß das Wort „Anschluß“ nicht fehlen darf, wird über Deutschland nachgedacht? Von allem und vor allem etwas: daß Strauß jetzt auch ein 89er sei – grüner Pfeil für Rechtsabbieger – und geläutert nach linken Irrungen vornationaler Epochen. Man tut Strauß nicht unrecht, stellt man fest, daß von seinem vielbeachteten Text wirkungsgeschichtlich wenig mehr blieb als der Begrüßungsrummel der neuen Rechten für einen der Ihren. Einem Berufsschriftsteller ist zuzubilligen, daß er bewußt über Form, Stil und Inhalt eines Textes zu verfügen vermag und also dafür haftet. Lesen allerdings tat sich der Riemen wie Schreibdurchfall bei Vollbildpatienten. Bei denen auch das geringste Verdauungsobjekt sich zu einem gehörigen Stuhlgang aufmästet und geräusch- wie geruchsvoll endlich entlädt. Ein vielseitiger, einseitiger, abseitiger Besinnungsaufsatz. Schön gemacht, abwischen.
Die Binse aber hieß „Tiefenerinnerung“ und kann in ihrer Schwurbulenz so ziemlich alles bedeuten. Etwa im Sinne des regierenden Doktors der Geschichte, der mitunter auf den Wert historischer Bildung besteht und daheim gern Biographien berühmter Männer liest. Ein psychologisches Indiz übrigens für die Debatte, nach welchen Kriterien er selbst seine Restkarriere planen mag: Mein Name sei Gantenbein, grinst Kohl, und schreibt sich noch ein paar Legislaturen fort. Andere erinnern sich gern ganz tief daran, wer denn schließlich die Autobahnen und so weiter und daß ja nun nicht alles schlecht gewesen sei. Damals konnte man wenigstens nachts noch auf die Straße, tiefenerinnern sich Nazi- wie SED-Nostalgiker erfrischend übereinstimmend. Folgen Wagnerianer, Bismarckianer, Fridericianer und wer will noch mal, wer hat noch nicht. Kurz: Für den ebenso frommen wie beherzigenswerten Wunsch „Mensch, hätte ich in Geschichte mal besser aufgepaßt“ ist es nie zu spät. Nur daß diese Klartextversion wahrscheinlich wesentlich weniger Kirmes gemacht hätte als Strauß' rindsledergebundene.
Ausdrücklich verwahrt gegen dieses oder jenes Verständnis hat sich der Text nicht. Das ist schade, denn bei etwas mehr Präzision wäre ihm leidenschaftlich zuzustimmen. Binnen der letzten zehn Jahre wurde das Grundgesetz – aus der direkten Geschichtserfahrung gewachsen und geschöpft – an einer ganzen Reihe von Kerninhalten beschädigt. Asyl, Unverletzlichkeit der Wohnung, das Wesen der Bundeswehr als Verteidigungsarmee, die Garantie des Rechtsweges für jeden in diesem Land: Futsch. Weiter, tiefer: Binnen der letzten fünf Jahre wurde der seligere Teil von Bismarcks Erbe, der Interessenausgleich der Klassen durch die Sozialversicherung, bis zur Lächerlichkeit geschrägt. In den letzten zwei Jahren wurde Europa parteiübergreifend in lecker Wahlkampfhäpfchen niedergemetzgert. Als der Vormärz „Deutschland über alles“ sang, stellte man die friedliche Einigkeit über die intrigante und oft blutige deutsche Kleinstaaterei. Sollen sich die Burschenschafter an den heutigen Universitäten tiefenerinnern und „Europa über alles“ singen. Tun sie aber nicht. Hak' dich ein, Botho, ich will mit dir konservativ sein.
Daß Günter Grass, annähernd pöbelnd, wegen meiner aufgeblasen, als Schriftsteller in die Gesellschaft hinein wirkt, ist nun erst mal bewiesen. Schade, daß das „Weite Feld“ stilistisch ein wenig an die Strauß'sche Unterleibsproblematik heranreichte und deshalb auch Grass' Treuhand-Schelte so wenig Debatten lostrat. Man verstand es nicht. Verstanden dagegen wurde die Friedenspreis-Rede. Und fürderhin wird es der lauschenden politischen Prominenz verstellt sein, die Kritik an der deutschen Türkeipolitik auf eine Personalie kleinzureden. Schämen, finde ich, muß Grass sich für Deutschland nicht. Er kann doch kaum was dafür. Eher ein bißchen was dagegen. Ein Strauß dagegen schämt sich für gar nix. Und zu Recht: Er hat ja auch nix gesagt. Nur ziemlich laut.
Ohne die Frankfurter Rede überzubewerten, ist festzustellen, daß wir nun eine Woche drauf endlich wieder über die Staatsbürgerschaftsfrage diskutieren. Wer Grass' Anteil daran bestreiten will, wird von Helmut Kohl belehrt: Der kommt vom Thema Doppelpaß schnurstracks zu „dann hätten wir vier, fünf, sechs Millionen Türken“. Was natürlich Hardcore- Mumpitz ist, denn tatsächlich hätten wir dann ein, zwei Millionen Deutsche türkischer Herkunft. Selbst der BDI hat schon ausrechnen lassen, daß wir „jährlich 400.000 Zuwanderer bräuchten, um zu überleben“. Riesenwitz! Deutsche Unternehmer warnen vor Unterfremdung! Wer das sagt, muß anderntags auch wieder von „Überfremdung“ geifern und dergestalt das vermeintlich liberale Beinkleid zu Tal fahren lassen. Schön peinlich. Nah schien ein Durchbruch zu einem modernen Staatsangehörigkeitsrecht schon einmal. Und zwar, als Kohl wegen des Solinger Anschlags unter internationalen Druck geriet und verlauten ließ, man wolle da jetzt was machen. Mir ist der Grass lieber als brennende Häuser.
Der Germane an sich wird – Geschichte schreiben immer die Sieger – vom Römer als trink-, streit- und selbstsüchtig beschrieben. Wo der Römer in oppidae gemeinsam siedelte, thronte der Urdeutsche mittig seiner Ländereien, weit weg vom nächsten. Gewonnen hat er sein Land in Raubzügen. Gab die Scholle nichts mehr her, erschlug er eher den Nachbarn um seines fruchtbaren Bodens, als mühsam den Ackerbau zu erneuern. Wurde es ihm zuviel – und oft wurde er sich selbst zuviel –, völkerwanderte er los. Die Angeln. Die Sachsen. Die Vandalen, bis Afrika und zurück, landeten nicht nur im Namen Andalusiens. Die Nordmänner in der Normandie. Theoderich überfiel Italien und blieb doch als Dietrich urdeutscher Nationalheld der Siegfried-Sage. Die Hunnen – vulgo: Mongolen – fremdelten auch mal durchs Geblüt; Attila hatte Schlitzaugen, dumme Sache, rassehygienisch gesehen. Sauber verherrlicht wurde dies alles von den Skaldendichtern, deren Werk sich wesentlich dadurch auszeichnete, daß man so gut wie gar nix begreifen konnte, wegen unendlicher Querverweise und Verschlüsselungen. An all dies sei hier kurz und tief erinnert, weil und damit die Debatte nicht länger gescheut wird, die die Rechte für sich zu pachten trachtet: daß man stets die Summe dessen sei, was man war. Na gut. Dann waren wir die Chefüberfremder Europas und sind noch heute krank vor Angst davor, daß jeder andere auch so sei wie wir. Und dann sind wir ein dermaßen multikulturell zusammengebrautes Gemisch, daß wir noch heute unser Erfolgsgeheimnis keinem anderen gönnen wollen. Ja, ja, Herr Strauß, so haben Sie das dann doch nicht gemeint mit dem tiefen Erinnern?
Mehr so skaldenmäßig-unverbindlich? O.K. Bei Grass ist Fortschritt eine Schnecke.
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