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SchlaglochSeepferdchen lügen nicht

Von Nadja Klinger

Elie Wiesel erwartet ein Mahnmal. Natürlich werden wir ihn nicht enttäuschen

„Sehen Sie, ein Tintenfisch, ruft die alte Frau, und da wabert er auf dem Meeresgrund, gelblich, einen Arm wie zum Gruß erhoben ... Wieder schaukelt ein Seepferdchen heran, eine Muschel öffnet sich, ein großer, ulkiger Fisch mit einer dicken Lippe glotzt ins Bild. Die Riefenstahl schweigt, und es tut gut, eine Weile still zuzusehen. Fische, einfach nur Fische.“

Dirk Kurbjuweit in „Spiegelreporter“, Februar 2000

Es kommt auf den Standpunkt an. Das ist keine spektakuläre Aussage. Ich will auf dem Teppich bleiben. Damit der Abstand zwischen dem Kopf und dem Boden unter meinen Füßen nicht größer ist, als ich gewachsen bin. Mit meiner eigenen Größe kann ich umgehen. Sie soll das Maß aller Dinge sein. Das sagt sich leicht und ist schwer durchzuziehen. Denn auf dem Teppich zu bleiben – das wiederum ist spektakulär.

Es kommt auf den Standpunkt an. Nehmen wir Leni Riefenstahl. Sie hat nach der Nazi-Zeit nur noch wenig Filme gemacht. Man hat ihr kaum noch Geld dafür gegeben. Denn mit der Art und Weise, wie einst ihre Kamera die Wirklichkeit einfing, und wie die Regisseurin die Bilder montierte, verband sich das, was man unter faschistischer Ästhetik verstand.

Nach dem Krieg ist Leni Riefenstahl zu so etwas wie einem Zungenbrecher geworden. Ein Name, über den man stolpert. Und zwar gleich beim ersten Mal, da man ihn ausspricht. Ohne zu wissen, warum. Oder doch: Die Geschichte, so lernt man, hat gelegentlich Begriffe hinterlassen, die jeder Aussage das Genick brechen können. Solche Begriffe und alles, was sich mit ihnen verbindet, sind Hemmschuhe. Es ist fast unmöglich, mit ihnen auch nur ein kleines Stück zu gehen.

Ohne zu stolpern bekommt den Namen Leni Riefenstahl nur jemand über die Lippen, der ihn oft genug ausspricht. Jemand, der wirklich kennt, wovon er redet. Der irgendwo ihre Werke sieht. Der etwas über die Regisseurin weiß. Aber machen wir uns nichts vor: Dem gewöhnlichen Nachkriegsdeutschen ist in derartigen Angelegenheiten kaum ein eigenes Urteil vergönnt. Darüber kann kein Machtwort mehr gesprochen werden. Ergo: Das eigene Maß aller Dinge ist nicht gefragt.

Über fünfzig Jahre nach dem Krieg wird das Leben von Leni Riefenstahl nun verfilmt. Überhaupt sei, so heißt es im Monatsmagazin des Spiegel, „das Interesse an der Ästhetik des Faschismus neu erwacht“. Ein Reporter trifft einen Theaterregisseur, der ein Stück von 1924 inszeniert, das von der Sehnsucht erzählt, eine Elite möge das Volk zu höheren Zielen führen. Es sei aktuell, erklärt der Künstler, weil die Menschen auch heute wieder nach Identität suchten. „Er begann mit den Proben und hatte keine Angst, sondern eine Menge Spaß ..., weil er Bilder erzeugen konnte, die von wuchtiger Schönheit waren“, heißt es im Text. „Die Faszination vernichtet Moral“, sagt der Regisseur.

Der Reporter trifft einen Filmproduzenten, der seit Jahren vergeblich versucht, einen Spielfilm über Hitler zu machen. „Der Adolf hat eine Magie, bei der man manchmal zusammenzuckt“, sagt er. Dann ist da noch der Galerist, der die Werke eines Nazi-Künstlers verkauft, weil dieser weithin geächtet ist und seine Plastiken damit in einer Marktlücke – also einträglich – sind. Wer kommt in die Ausstellungen? Wer kauft? „Leute, die sich für Schönheit interessieren, nicht für Politik“, sagt der Galerist.

Schließlich kommt noch jener Mann zu Wort, der zum Jahreswechsel die Lichtshow an der Siegessäule inszenierte, über die sich Berlin zerstritten hat, weil sie an die Lichtdome Albert Speers erinnerte. Der Mann, der das Pathos liebt, das die Strahlen im Nachthimmel erzeugen, legt unverfroren sein eigenes Maß an. „Ich lebe nicht im Dritten Reich“, sagt er.

Am Ende der Reportage sitzt der Journalist mit Leni Riefenstahl vor einem Monitor. Die 97-Jährige schneidet wieder an einem Film. Sie macht wieder schöne Bilder, unter Wasser, im Meer. Und über die Bilder von damals sagt sie: „Ich habe nicht gewusst, dass das faschistisch ist.“

Kann ich mit diesem Satz etwas anfangen? Ist das, was ich glaube, ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg schon relevant? Ist es angebracht, mein eigenes Machtwort zu sprechen?

Hätte ich die Regisseurin leibhaftig vor mir, wäre ich still. Das wäre der kleinste gemeinsame Nenner zwischen dem, was einst geschehen ist, und mir: eine schweigsame Geste, aus der meine eigene Stimme spricht. Ich wäre das Meerestier auf dem Monitor. „Es tut gut, eine Weile still zuzusehen“, denkt der Reporter am Schneidetisch. „Fische, einfach nur Fische.“

So gesehen, fand der Holocoust-Gedenktag vergangene Woche für mich auch am Schneidetisch statt. Der Bundestagspräsident sprach große Worte. Die Rede war von Schuld, „die nicht vergeben werden kann und nicht vergessen werden darf“. Vielleicht gelingt es klugen Männern wie Wolfgang Thierse tatsächlich, bei aller Konzentration auf das Nichtvergeben und Nichtvergessen, auch noch zu verstehen. Fragen wir ihn lieber nicht. An solchem Tag kann man vor dem deutschen Parlament wohl nicht auf dem Teppich bleiben.

Nach dem Krieg ist Riefenstahl zu so etwas wie einem Zungenbrecher geworden

Nach der Bundestagssitzung wurde kein Grundstein für das Mahnmal für die ermordeten europäischen Juden gelegt. Kein Grundstein, weil man keinen legen kann, wo nicht klar ist, was gebaut wird. Schließlich wurde das Zeremoniell zur Nichtgrundsteinlegung damit bedacht, dass ihm einige Politiker demonstrativ fernblieben. Auf dem Monitor konnte ich schweigende deutsche Persönlichkeiten sehen. In allen Gesichtern hing der gleiche Blick. Er sagte: Das Wasser ist sehr tief. Das verleitete dazu, mich bei jedem Einzelnen daran zu erinnern, was er in den zurückliegenden Jahren zur Debatte um das Mahnmal beigetragen hat. Plötzlich schien es, als sei es nicht die Erinnerung an den Holocaust, sondern die Schwere der Argumente in den Jahren danach, die Last der demonstrativen Gesten, die Augen, Wangen und Mundwinkel der deutschen Prominenz nach unten zieht.

Aber dann schaukelte auch ein Seepferdchen heran. Es war Elie Wiesel, Überlebender von Auschwitz und Buchenwald. Er kam in den Bundestag: „Sehen Sie in mir den Mann, der ich damals war.“ Die Saaltür schlug zu. Niemand konnte mehr nach draußen schauen, in die Vergangenheit, so weit zurück, wie das Auge sowieso nicht reichen kann. Das Parlament erstarrte.

Natürlich erwartet jemand wie Elie Wiesel, dass die Deutschen endlich ein Mahnmal bauen. Natürlich erwartet er, dass sie mit „großer Geste“ das jüdische Volk um Verzeihung bitten. Selbstverständlich werden wir seine Erwartungen kaum enttäuschen. Diese Erwartungen jedenfalls nicht.

Was Wiesel noch verlangt? „Tun Sie alles, damit Ihre Kinder, die Bescheid wissen wollen, auch Bescheid wissen können!“ Vermutlich glaubt das deutsche Parlament, dass es sich dabei um all das handelt, was man erfahren kann, wenn man nur weit genug aus der geöffneten Tür schaut. Irrtum. Der Blick zurück ist von Tabus umstellt: Lichtdome, Hitler-Filme, Riefenstahl ... Tabus, die suggerieren sollen, alles sei leicht zu verstehen. Was sagte Elie Wiesel? Er habe dieses Ende der Menschlichkeit bis heute nicht begreifen können.

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