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Schlagloch KapitalismusTötet Angela Merkel ...

Kommentar von Georg Seesslen

... oder ich lasse den Hund auf eure Warhols pissen! Denn die Wahrheit ist: Ein Menschenleben ist weniger wert als ein künstlerisches Anlageobjekt.

Angela Merkel. Bild: reuters

N ein, keine Sorge: Ich habe gar keinen Hund. Und ihr habt auch gar keine Warhols, jedenfalls keine echten, auf die ein Hund sowieso nicht pissen könnte, weil sie zu hoch hängen. (Dies ist nur eine Hommage an Schlingensiefs „Tötet Helmut Kohl“).

Wir reden hier auch nicht über Merkel und Warhol, sondern über das dreifache Gesicht des „kapitalistischen Realismus“. So wie der „sozialistische Realismus“ ein Idealbild kollektiver Anstrengung für eine strahlende Zukunft erzeugen sollte, um zur gleichen Zeit alle westliche Dekadenz und den arbeitenden Massen fremde Abstraktion zu meiden, so erzeugt der kapitalistische Realismus ein Trashbild individueller libertärer Obszönität für eine mehr oder weniger glamouröse Gegenwart bei gleichzeitiger Meidung aller ethischen und ästhetischen Begrenzungen.

Kapitalistischer Realismus erzählt von der Freiheit, die man sich herausnehmen kann, wenn man in der Position dazu ist: Das hier ist mein Kommentar, und ich mach damit, was ich will. Solange man ihn mir abkauft. Und ich sage in möglichst lärmiger Form die unangenehme Wahrheit: Dass es in diesem System vollkommen normal ist, dass ein Menschenleben weniger wert ist als ein künstlerisches Anlageobjekt.

Georg Seesslen

ist freier Autor und hat bereits über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht. In diesem Jahr erscheint: „Kunst frisst Geld. Geld frisst Kunst“, gemeinsam mit Markus Metz verfasst (Suhrkamp). Er lebt in Bayern und Italien.

Würde ich meinen Hund allerdings dazu bringen, einen Warhol anzupinkeln, wäre er selbst Instrument eines zweiten kapitalistischen Realismus. Nämlich des Eingriffs in eine „Wertschöpfungskette“. Das Ruinieren durch Urinieren wäre Kunst, wenn auch eine wertmindernde. Allerdings kann man sich durchaus einen Kunstmarkt vorstellen, der den „Pissed Warhol“ in den Rang eines Metakunstwerks höbe. Es käme, vielleicht, auf den Hund an.

Der Hund als Künstler

Und wenn tatsächlich jemand auf die Idee käme, Angela Merkel anzugreifen? Auch dann fände sich gewiss jemand, der das Attentat zum Kunstwerk erhöbe, ganz wie beim Anschlag auf die Twin Towers, die mancher als „größtes Kunstwerk“ gefeiert hat. Was ein Skandal war, aber auch den Kern dieser Kunst- und Lebenshaltung zeigte: Ein Effekt ist immer bedeutender als Menschenleben.

Dass kapitalistischer Realismus inhuman ist, offenbart sich selbst in seiner dritten, der langweiligsten Variante, nämlich der Ästhetisierung und Dramatisierung des Einverstandenseins. Dieser kapitalistische Realismus will weder etwas „Realistisches“ über das System (Ideologie und Praxis des Neoliberalismus) aussagen, noch will er dessen Effekt- und Spektakelsucht für die eigenen Absichten nutzen. Er geht nur davon aus, dass Mitmachen besser als Draußenbleiben ist. Dieser kapitalistische Realismus übernimmt die drei großen Dogmen des Neoliberalismus:

1. Es gibt keine Alternative.

2. Wer verliert, ist selber schuld.

3. Die Antwort auf eine Krise der Kapitalisierung ist noch mehr Kapitalisierung.

Den kapitalistischen Realismus gibt es in den begeisterten Formen (Kunst, die die Lebensräume der Superreichen dekoriert), mehrheitlich indes in fatalistischen, zynischen und nihilistischen Varianten. Hier vereinen sich Ästhetik, Glaube und Macht. Der kapitalistische Realismus wird zur Grundüberzeugung, zur Metaphysik und zur Ikonografie des Menschen unter dem Neoliberalismus.

Womit wir bei Gerhard Schröder wären. Er ist so etwas wie der „Johannes der Täufer“ des Neoliberalismus im Allgemeinen, des Merkelismus im Besonderen. Seine Politik des „Da kann man nichts machen“ ist, wie nun mehr als deutlich wird, die andere Seite des „Nimm, was du kriegen kannst“. Reden wir nicht über Moral und Bewusstsein, reden wir über den späten Gerhard Schröder als Gesamtkunstwerk des kapitalistischen Realismus.

Er vereint in sich alle drei Varianten. Sein Verhalten, seine „Performance“ weist auf ein ungeklärtes Problem in der Entwicklung von Finanzkapitalismus und Postdemokratie hin, das, verborgen genug, schon im „Bimbes in Tüten“-Happening von Helmut Kohl anklang: Sollen die Vertreter des postdemokratischen Regierens Erfüllungsgehilfen oder besser Mitglieder der neuen Oligarchen-Klasse sein, die die Welt unter sich aufteilt?

Beziehungsweise: Wie viel Millionen muss ein Politiker oder Expolitiker bekommen, damit sich kein Widerspruch zwischen „armem“ Politiker und reicher Klasse auftut? Das kapitalistisch-realistische Gesamtkunstwerk Gerhard Schröder jedenfalls zeigt auf, dass die Sehnsucht nach dem Dazugehören, das sich im kapitalistischen Realismus nun einmal in Geld ausdrückt, stets größer ist als traditionell an Gesetz und Transparenz gebundenes Regierungshandeln. Nicht „Reichsein“ ist der Kern dieser Installation, sondern „Zu-den-Reichen-Gehören“.

Kommt zu spät zum Meeting

Kapitalistischer Realismus ist auch das Wesen unserer Mainstream-Medien. Deshalb betreiben sie, was die Ukraine anbelangt zum Beispiel, ein aktionistisches Phantasma; was die eigenen sozialen Konflikte belangt, eine radikal parteiische Projektion: Das Subjekt ist nicht länger der arbeitende, sondern vielmehr der konsumierende Mensch; nicht der kämpferische, sondern der funktionierende Mensch. Was interessiert mich das Tarifrecht, wenn ich zu spät zu meinem Meeting komme? Kapitalistischer Realismus als Street-Art ist die großformatige Stilisierung endlich befreiter Selbstsucht.

Daher betreibt der kapitalistische Realismus der Mainstream-Medien eine schrille Performance zugunsten der neuen Verhältnisse: die Gier nach neuen Märkten, einschließlich neuer, billiger Arbeitskräfte, die weiterhelfen, die Arbeit im Wirtschaftsraum zu entwerten, und den Hass auf Gewerkschaften und deren Widerstand gegen diese Entwertung. Der kapitalistische Realismus zeigt, dass die Arbeit keine Chance gegen das Kapital hat. Seine Kunst nun liegt darin, dies in gefällige Bilder und Geschichten zu verwandeln. Und damit alle zu erreichen.

Wie jede Kunstrichtung, so ist auch der kapitalistische Realismus durchaus endlich. Es gibt Alternativen. Die Verlierer müssen nur aufwachen. Die Kapitalisierung der Welt ist nicht durch Schicksal, sondern durch Propaganda vorgeformt. Etwas Besseres als den ästhetischen und geistigen Tod finden wir allemal.

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19 Kommentare

 / 
  • Jau! Wobei der "ästhetische Tod" eher schon eine Vorbedingung dafür sein dürfte, dem "kapitalistischen Realismus" etwas Neues entgegensetzen zu können.

  • @@downstairs

     

    Gut - mal andersrum -

     

    Seesslen:

    "…Etwas Besseres als den ästhetischen und geistigen Tod finden wir allemal."

    (=Selbstermächtigung ala Bremer Stadtmusikanten)

     

    Demokratiekritik ala Oswald Spengler

    (=bisher hat er recht)

     

    kurz - die Frage:

    Seesslen-way - ohne Demokratie -?¿

    (=Volkers Mund -

    Wirf keine Flinte ins Korn

    ohne eine bessere;-)

  • -?- "...nicht durch Schicksal, sondern durch Propaganda vorgeformt." -?-

     

    Darum nie vergessen, warum Beuys "Dem toten Hasen die Bilder erklärt(e)".

    -----------------------

    btw. möchte ich widersprechen:

    Durch "Urinieren" kann Kunst (z.B. ein Kruzifix) in der persönlichen Wertschätzung durchaus angehoben werden:

    "Ich wollte den von mir geschätzten Christus ganz mit meinem Innersten umfangen" (Piss Christ)

    -----------------------

    Der Hinweis auf Kohl, Schröder, Merkel?- Als Vorbildfunktion einer gesamtgesellschaftlichen Kategorie für seelisch-kulturelle Lebensqualität?- Nunja-, auf diese Typen wäre mit bester Gewissheit, eher was zu schießen als zu pießen.

  • Mehr als ein "Schlagloch", der Kapitalfaschismus heute!

     

    Der objektive Realismus im Kapitalfaschismus bzw. in der ideologischen sog. "sozialen Marktwirtschaft" der "Sozialpartner" der Bourgoisie und Aktionäre.

     

    Bemerkungen zum politischen Realismus des Kapitalfaschismus, gestern und heute:

     

    Die herrschende spätbürgerliche Ideologie und Praxis des modifizierten Kapitalfaschismus: "Wer verliert, ist selber schuld." - "Die Antwort auf die Krise der Kapitalisierung" ist noch mehr Profitmaximierung. - Noch mehr Ausbeutung und Vernichtung von Umwelt, Natur und Leben!

     

    Die künstlichen Anlageobjekte sind in der "sozialen Marktwirtschaft" der "Sozialpartner/innen" von Finanz- und Monopolbourgeoisie vs. Arbeit, ideologisch und praktisch, mehr Wert als Millionen Menschenleben! Siehe nur die jüngste Weltfinanz- und Wirtschaftskrise, die weitere Steigerung der privaten und staatlichen Ausgaben für Massenvernichtungsmittel (die Waffenproduktion weltweit) etc.. --

     

    Aber auch das spezialdemokratisch-kapitalfaschistische Hartz-IV-System, der gut-geschmierten SPD-BDA-BündnisGrün-BDI-BND-Sozialpartner. --

     

    Siehe auch die sozialdemokratische Lobby-AGENDA 2010, und zukünftig die Sozialrente (und Sterbehilfe?): mit 67, -- für lebenslange Wert- und Mehrwertschöpfung der werktätigen eigentumslosen Frauen und Männer.

     

    Merke: Der moderne Kapitalfaschismus, -- der gut-geschmierten "Sozialpartner" der Finanz- und Monopolbourgeoisie --, wird von fast allen staatlich-geheimdienstlich-polizeilich-militärisch-juristischen Überwachungs- und Gewaltapparaten geschützt, einschließlich: deren privaten und staatlichen Medien, Erziehungs-, Bildungs-, Religions-, Glaubens- und 'Kirchen'-Einrichtungen etc.

    • @Reinhold Schramm:

      "Merke: Der moderne Kapitalfaschismus, -- der gut-geschmierten "Sozialpartner" der Finanz- und Monopolbourgeoisie --, wird von fast allen staatlich-geheimdienstlich-polizeilich-militärisch-juristischen Überwachungs- und Gewaltapparaten geschützt, einschließlich: deren privaten und staatlichen Medien, Erziehungs-, Bildungs-, Religions-, Glaubens- und 'Kirchen'-Einrichtungen etc."

       

      Dann sind ja eigentliche alle beteiligt und versorgt, wo also liegt das Problem?

       

      Ok, diesmal fehlen die Quandts...

  • Ja - wie durchweg bei Georg Sesslen -

    den kann frauman nehmen -

     

    Nicht „Reichsein“ ist der Kern dieser Installation, sondern „Zu-den-Reichen-Gehören“.

     

    Genau -

    aber diese Distinktionsgewinn-

    diese Gaz-PromGerd-Nummer

    - ein one-cabin-house-man wie

    z.B. Tricky-Dickie-Nixon* -

     

    hatten/haben wir schon in der

    immer gut frisierten provinziellen gutbürgerlichen blanden Form -

    mit ewiger Fluppe auf dem Zahn -

    als role model -

     

    Helmut Schmidt-Schnauze - genau -

    Ja auch er hat sein Leben lang nicht begriffen -

    daß er nun mal nicht auf der richtigen Seite der Elbchaussee geboren ist -

    Aber so weltläufig tun kann man

    ja schon mal - als Quidje -

     

    Und daher wird sein nerviges

    Dazugehören-Wollen - -

    soviel er auch ramentert -

    sich nun mal nicht erfüllen.

     

    ps:* vielleicht sollte man dem

    Apercu von Kinky Friedman -

    - "einen Nixon abseilen" -

    eine deutsch-variante

    Gerd.Renaissance

    angedeihen lassen;-))

  • ...zu spät, Warhol hat bereits selbst auf seine 'Warhols' gepisst, war auch nicht wertmindernd ; )

    • @Fotohochladen:

      Ich meine, er hätte ejakuliert.

  • Blöde Überschrift, lesenswerter Artikel.

  • 8G
    88862 (Profil gelöscht)

    Dass bei den Reichen Kunst immer schon wichtiger war als Menschenleben, ist eigentlich nicht Neues. Nur dass deren Vertreter auch bei demokratischen Wahlen Mehrheiten bekommen, das ist eine erstaunliche Entdeckung der Neuzeit.

  • Wahre Worte, klare Worte.

    Selten geworden sind sie.

  • Danke Herr Seßlen, endlich (wieder) eine perfekte Analyse, ein toller Titel und eine klare Aussage zu diesem "Schweine-System" von Ihnen.

     

    Das ist nichts, was "passiert". Das machen alles Menschen, nur dass diese glauben, es nicht verantworten zu müssen.

     

    Selbst denken (Anstöße dazu gibt's als Buch von Harald Welzer), anders, sprich bewusst und überlegt handeln, das verschüttete Rückgrat ausbuddeln und die eigene Konsumwut reduzieren für Sachen, die wir nicht brauchen, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen, würde für's Erste schon ganz schön helfen, diese Welt etwas zu verbessern.

     

    Herr Seßlen, ich freu' mich auf Ihren nächsten Kommentar.

  • Gratulation!

    Gesellschaftkritik in Form einer "Kunstktirik" ist schonmal ein wirklich bemerkenswerter "Kunstgriff" und dabei auch noch den Kapitalismus m.E. sehr trefflich zu charakterisieren, das ist wirklich mal gelungen. In einigen Teilen möchte ich allerings widersprechen. Neo-Liberalismus ist ein unsinniger Begriff, das vorangestellte "Neo" verweist darauf, daß dies etwas Neues sei, was schierer Unsinn ist. Im Grunde ist es ein Gedankengut, was in Tendenzen schon der Frühmensch geprägt hat, spätestens nachdem er den persönliche Besitz entdeckte, also vielleicht mit der Erfindung des Ackerbaus. Ausformuliert wurde das ganze etwa mit Thomas Malthus, vor ca 350 Jahren, "Sozial ist was Arbeit schafft" und die Harz-"Reformen" sind eigentlich nur ein lauwarmer Aufguss des malthusianischen Darwinismus. Was an Ihrem Artikel fehlt, ist der Bezug zur "geheiligten" Demokratie, den schonmal jemand vorhergesehen hat, vor fast 100 Jahren: "Die privaten Mächte der Wirtschaft wollen freie Bahn für ihre Eroberung großer Vermögen. Keine Gesetzgebung soll ihnen im Wege stehen. Sie wollen die Gesetze machen, in ihrem Interesse, und sie bedienen sich dazu eines selbstgeschaffenen Werkzeugs, der Demokratie, der bezahlten Partei."

    Oswald Spengler, ein ausgesprochen konservativer Mensch, hatte etliche Irrtümer zu verbuchen, ob sein Hauptkritikpunkt an Demokratie auch ein solcher Irrtum war? Man möchte es wünschen, bis jetzt hatte er leider Recht.

    • D
      D.J.
      @Klaus Franz:

      Zwei demokratische Staaten führen so gut wie nie gegeneinander Kriege. Kein ganz unwichtger Vorteil, nicht?

      • @D.J.:

        Die jugoslawische Regierung mit Präsident Milosovic war demokratisch gewählt wie das Schröder-/Fischer-Regime hier,

        Und dennoch gab es Krieg.

        • @Age Krüger:

          Überdies vergißt Freund D.J. die wahrste aller Wahrheiten, daß nämlich das erste Opfer jeden Krieges die Wahrheit selber ist. So denn: Für jede kriegführende Nation ist stets der Feind der Schurke und Tyrann. Freilich: Spätdemokratisierte tun sich halt noch ein bissel schwer mit alldem, was da seit nunmehr 25 Jahren an Herauforderungen auf sie einstürzt.

          • @Dudel Karl:

            ooch - jetzt seid´s aber a weng boshaft -

             

            erinnert aber a bisserl

            auch etwas an den -

            "nun laßt doch den Touri -

            er kann doch nix dafür -

            wann er keinen Kropf hat";-))

            gell - ihr Pharisäer

            • @Lowandorder:

              Also ich find des überhaupt net boshaft. Ich kann mich nur demenstrechendem Eindruck nicht länger erwehren.