Schiff mit Foltergeschichte: Die Schatten der „Weißen Dame“
Der chilenische Segler „Esmeralda“ besucht die Sail. Unter der Pinochet-Diktatur diente das Schiff Folterknechten. Beim Marineevent ist das kein Thema.
Fast ein Wunder, dass die „Esmeralda“ aus Chile jetzt das erste Mal zur Sail nach Bremerhaven kommt; immerhin eines der größten Windjammer-Festivals, ja: der Welt. Bundespräsident Joachim Gauck wird auch da sein, und „unsere blauen Jungs“, so schrieb die Bild stolz, „unsere deutsche Marine“ also, hat mitgeholfen, sodass die „Esmeralda“ nun bei „unserer Sail“ dabei ist.
1973 lag sie noch im schönen Valparaíso, ihrem Heimathafen. Das chilenische Militär hatte gerade, mit Unterstützung aus den USA, die Macht im Lande übernommen und Salvador Allende, drei Jahre zuvor als Präsident des Landes demokratisch gewählt, war tot. Es war der Beginn einer Diktatur, die erst 1990 enden sollte. Auch die „Esmeralda“ diente seinerzeit treu der Militärjunta Augusto Pinochets – als Folterschiff.
Drei Wochen lang jede Nacht verhört
Als Maria Elina Comené 1973 auf das Schiff kommt, ist sie noch Studentin an der katholischen Universität. An Bord des Schiffes stößt man sie als erstes die Treppe hinunter, sie muss sich nackt ausziehen, damit junge Soldaten mit geschwärzten Gesichtern alle Körperöffnungen untersuchen können.
Im Duschbad folgen weitere sexuelle Übergriffe, Demütigungen. Von nun wird Frau Comené drei Wochen jede Nacht vom Militär verhört werden, dabei mit elektrischem Strom gequält, mit Zigaretten verbrannt, vergewaltigt. Auch Prügel, Schlafentzug und absolute Dunkelheit gehören hier zu den Haftbedingungen.
Aufgearbeitet hat diese Geschichte nun Walter Mülich, der selbst aus Bremerhaven kommt, und früher mal Studiendirektor in Hambergen bei Bremen war. Im vergangenen Jahr erschien sein Buch „Kreuzende Kurse“, das die Geschichte gleich mehrerer Schiffe behandelt, deutscher wie chilenischer. Auch das „Gespensterschiff“ ist darunter, die „FM 21“: Sie wurde einst von der Marine-SA in Bremerhaven als Verhörschiff benutzt.
Unweit jener Stelle, an der die „FM 21“ lag, machte 2003 schon einmal die „Esmeralda“ fest. Auch Walter Mülich war seinerzeit an Bord, wo damals nichts an die Vergangenheit der „Weißen Dame“ erinnerte: „Der Kapitän“, hieß es, „wünscht keine Fragen zur Vergangenheit.“ Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) protestierte gegen den Besuch der „Esmeralda“, die daraufhin geplante Aufenthalte in den Niederlanden und Schweden absagte.
In Bremerhaven empfing der damalige Oberbürgermeister Jörg Schulz (SPD) die chilenische Marine freundschaftlich. An den Vorwürfen von AI habe er „keinen ernsthaften Zweifel“, sagte er, aber auch, dass das „kein Hinderungsgrund“ sei für ein herzliches Willkommen.
„Das Schiff repräsentiert heute einen demokratischen Staat“, so Schulz, und die Besatzung habe mit der alten Marine ja nichts zu tun. Ohnehin gebe es doch gerade in Deutschland auch „Anlass zur Zurückhaltung“, fand der Politiker – man dürfe „nicht vergessen, dass es auch in Deutschland nach 1945 versäumt wurde, das dunkelste Kapitel der Geschichte umfassend aufzuarbeiten“.
Bei der Sail will man von der Vergangenheit der „Esmeralda“ heute nichts wissen. „Wie lange ist das jetzt her?“, fragt der Pressesprecher des Schiffsevents. Über 40 Jahre. „Und warum sollten wir uns 2015 damit beschäftigen?“ Na ja, aber die Nazi-Zeit ...? „Das ist was anderes“, sagt der Sprecher. Dass sich die Sail mit den chilenischen Vorgängen befasst, dafür sehe er „keine Veranlassung“.
„Aufarbeitung, nicht Konfrontation“
Walter Mülich schon. Der Putsch in Chile hat ihn politisiert, damals, da war er 23. Er beschäftigt ihn noch immer. Also organisiert er eine Lesung seines Buches in Bremerhaven, dazu eine Kundgebung direkt vor der „Esmeralda“ im Kaiserhafen.
Es gehe ihm „nicht um Konfrontation“, sagt Mülich, nur um eine „offensive gesellschaftliche Aufarbeitung“. Und darum, auf den militärischen Auftrag von solchen Segelschiffen hinzuweisen, Großseglern im Dienste der Marine. Bei der Sail habe man es aber lieber „so störungsfrei und bunt wie möglich“, sagt Mülich.
Mittlerweile hat die chilenische Marine zugegeben, dass die „Esmeralda“ 1973 zwölf Tage lang ein geheimes Gefangenenlager sowie ein Verhör- und Folterzentrum beherbergte. Auch Staatsanwalt Luis Vega Contreras wurde damals hier gefoltert, unter anderem von Mitgliedern einer faschistischen Organisation. Vega wurde vorgeworfen, 900 Terroristen befehligt zu haben.
Er berichtete von Scheinerschießungen und Elektroschocks, von Wunden, die mit Salzwassser begossen wurden, von Schlägen mit Gewehren und Peitschen, von Todesdrohungen oder Misshandlungen mit Meerwasser, mit Hochdruck aus einer Pumpe geschossen. Frauen wurden Insekten in die Vagina eingeführt, Schwangere so lange geschlagen, bis sie Fehlgeburten hatten. Andere Gefangene wurden stundenlang in eiskaltes Wasser getaucht, mussten nackt in der Sonne stehen. Und so weiter.
Die Gesamtzahl der Opfer sei schwer zu erfassen, sagt Mülich, sein gut recherchiertes Buch geht von mindestens 112 Gefangenen auf der „Esmeralda“ aus. 1991 weist ein Bericht der Ära Pinochet mindestens 2.279 politisch motivierte Morde nach. Strafrechtliche Konsequenzen hatte er keine.
2004 wurden nochmals mehr als 27.000 Opfer des Militärregimes befragt, ab 2010 – unter der heutigen Präsidentin Michelle Bachelet – über 32.000 neue Fälle untersucht, dazu fast 10.000 weitere Folterungen. Pinochet starb 2006, die Aufarbeitung seines politischen Erbes aber ist noch immer nicht beendet. Für die „Esmeralda“ ist es das erste Mal seit 2003, immerhin, dass sie sich wieder nach Nordeuropa traut.
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