Schießerei in Utrecht: Die Leere nach den Schüssen
Drei Menschen wurden in Utrecht bei einer Schießerei getötet. Die Anwohner*innen wollen sich von der Tat nicht verängstigen lassen.
Durch die großen Scheiben des „huis van vrede“, des „Haus des Friedens“, gelegen im Utrechter Stadtviertel Kanaleneiland, schiebt sich die Sonne zögerlich herein. Draußen, vor diesem evangelischen Begegnungszentrum, hantiert ein niederländisches Fernsehteam mit viel Technik. Hastig kommt eine Frau aus dem Team herein, fragt nach der Toilette und ist flugs wieder draußen, Bilder einfangen.
Die viertgrößte niederländische Stadt ist am Montagvormittag Ort eines Anschlags geworden, der drei Tote und fünf zum Teil schwer Verletzte gefordert hat. Das Motiv des Täters für die grausamen Schüsse in einer städtischen Straßenbahn ist auch 36 Stunden nach der Tat immer noch unklar.
Der mutmaßliche Täter, der türkischstämmige Gökmen Tanis wurde am Montagabend bei einer Hausdurchsuchung gefasst. Doch was hat ihn dazu gebracht, in einer Tram drei Menschen umzubringen? Und was ist mit den beiden anderen Festgenommenen, die auch am Dienstagnachmittag noch vernommen wurden?
Vieles deutet zunächst auf einen Terroranschlag hin
Am Montag war zunächst von Terror die Rede, Alarm wurde geschlagen, die Menschen zum Verbleiben in ihren Häusern und Wohnungen aufgefordert. Dann hieß es, möglicherweise handele es sich um eine Beziehungstat.
Am Dienstagmorgen wird bekannt, dass die Polizei in einem von dem mutmaßlichen Täter gestohlenen Fluchtauto einen Brief gefunden hat, dessen Inhalt doch auf ein terroristisches Motiv des 37-Jährigen hindeutet. Was in dem Schreiben steht, wird nicht bekannt. Zugleich erklären Polizei und Staatsanwaltschaft, dass sie „keinerlei Verbindungen“ zwischen dem Hauptverdächtigen und seinen Opfern haben finden können. Es handelt sich um eine 19-jährige Frau und zwei Männer im Alter von 28 und 49 Jahren. Alle drei stammen aus der Provinz Utrecht.
Es sind zuallererst die Bilder aus Utrecht, die zählen. Es sind Bilder, die um die Welt gehen, von bestürzten, innehaltenden Menschen. Sie legen Rosen und Tulpen, meist in Zellophan eingewickelt, an den Stamm einer hochgewachsenen Platane – nicht weit von der Trambahnhaltestelle, wo es zur Schießerei gekommen ist. Es sind Bilder von Menschen an einer gesichtslosen, belebten Kreuzung, denen die Tränen das Gesicht hinunterlaufen, Menschen, die gequält gefühlig zwei, drei Sätze in Richtung der zahlreich hingehaltenen Mikrofone der Reporter abspulen.
Kein finsterer Ort
In Kanaleneiland, einem Viertel mit rund 16.000 Einwohnern, leben seit den 1980er Jahren mehr als zur Hälfte Menschen mit marokkanischen Wurzeln, aber auch viele, deren Familien ursprünglich aus der Türkei, Bulgarien und dem Iran stammen. Auch der mutmaßliche Haupttäter Gökmen Tanis kommt von hier. Besucher*innen, die sich in die schachbrettartig angelegten Straßen begeben, werden freundlich empfangen.
Auch wenn viele Vorhänge, entgegen der niederländischen Tradition, zugezogen bleiben – „wir lassen uns unsere gute Nachbarschaft durch einen durchgeknallten Kriminellen wie Gökmen nicht kaputtmachen“, sagt Ayse, die Mutter einer Siebenjährigen. Sie kann die Geschichten von Kanaleneiland als eines der härtesten Ghettos des Landes nicht mehr hören.
„Klar, hier liegen vielleicht mehr Kippen und Plastiktüten auf der Straße herum. Aber das heißt nicht, dass das ein allzeit finsterer Ort ist.“ Die 28-Jährige kennt die Familie des mutmaßlichen Täters vom Sehen, auch Gökmen. „Mir tun seine Eltern leid. Er selbst war immer schon aggressiv, oft betrunken, ein schlechter Mensch, auch wenn er zeitweise strenggläubig getan hat.“
Das Haus des Friedens
Ayse, die ihren Nachnamen nicht preisgeben möchte, zupft ihr leuchtendes Kopftuch in Form, ihre Tochter Selma geht in eine ursprünglich katholische Schule in Kanaleneiland, die aber heute säkular ausgerichtet ist. Auf die islamische Schule in der Gegend soll Selma nicht: „Mein Mann und ich finden es dort viel zu strikt, ja, da geht es ja fundamentalistisch zu“, sagt Ayse. In den Niederlanden können muslimische Gemeinden unkompliziert und finanziell unterstützt vom Staat Vollzeitschulen gründen.
Gleich ums Eck steht das „Haus des Friedens“ an der Trumanlaan. Henk Bouma hat nichts gegen Fundamentalismus. Der 48-jährige evangelische Pfarrer leitet mit leiser Energie sein Friedenshaus. Er wirkt humorvoll, wenn er sagt: „Eigentlich bin ich ja auch Fundamentalist. Ich glaube halt einfach an Gott heutzutage.“
Am Tag des Anschlags blieb das Friedenshaus fast durchgängig geöffnet, auch während der draußen stattfindenden Polizeirazzien. Dutzende Menschen seien gekommen, wollten sich austauschen über das Attentat, ihre Ängste offenbaren. Fast alle anderen öffentlichen Einrichtungen in der Gegend blieben am Montag dagegen geschlossen, bis zum Abend auch die Moscheen.
Angst vor Rechtspopulisten?
Henk Bouma hat seinen beiden Kindern muslimische Vornamen gegeben, ein Sohn heißt Khaled. „Solange Menschen anderen Menschen ihre Weltsicht, ihre Religion nicht mit brutalen Mitteln aufzwingen wollen, so lange können sie sich von mir aus fundamentalistisch nennen.“ Bouma kennt Kanaleneiland nicht nur durch seine Arbeit, er lebt auch gleich um die Ecke, gegenüber von der „Lukasschool“, in einem schlichten, geklinkerten Haus.
Draußen auf der Straße blühen tiefblaue Traubenhyazinthen, ein sperriges Hollandrad ist in eine liebevoll angelegte Rabatte gekippt. Hat er Angst, dass die Rechtspopulisten im Land, dass der krachledern wirkende Geert Wilders von der „Partei für die Freiheit“ und der pseudointellektuell auftretende Thierry Baudet vom „Forum für Demokratie“, den Anschlag für ihre Zwecke nutzen? Dass sie noch mehr Menschen bei den jetzt anstehenden landesweiten Provinzialwahlen für ihre Parteien gewinnen könnten?
Baudet hat als einziger Politiker seinen Wahlkampf wegen des Anschlags nicht unterbrochen. Natürlich stünde der türkischstämmige Täter nicht für die Türken, ließ der 36-Jährige verlauten, aber es gäbe da eben schon tiefgreifende Probleme mit dieser Bevölkerungsgruppe. Und Wilders hat beantragt, dass das Parlament über die Tat debattieren soll.
„Nein“, sagt Henk Bouma, und die Antwort kommt sehr schnell und präzise, „nein, der Anschlag wird unsere niederländische Gesellschaft nicht nachhaltig verändern. Wir wissen ja noch nicht einmal, was genau passiert ist.“ Für ihn als gläubigen Christen gehöre der Islam zu Holland, und falls der Täter auch noch „Allu Akhbar“ in der Straßenbahn gerufen habe, wie das ein Augenzeuge berichtete, „dann fällt für mich dieser Spruch, natürlich nicht die Tat, schlicht unter islamische Folklore.“
Galgenhumor gegen diffuse Angst
Sani, die ursprünglich aus Bulgarien stammt und die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, arbeitet ehrenamtlich im Friedenshaus. Sie verabschiedet sich gerade, will noch Besorgungen für das für den Abend geplante persische Chaharsbanbe-Sori-Fest machen. Auf ihrem straffsitzenden grauen T-Shirt prangt auf Englisch und in Schwarz der Spruch: „Nicht alle, die umherwandern, sind verloren.“ Dann erklärt sie den Weg zur der Straßenbahnhaltestelle am Platz des 24. Oktober.
Wenig später knien dort zwei Mitarbeiter der Stadt Utrecht an mehreren Blumenkübeln aus Beton. Quintin und Peter heißen die beiden. Sie reißen verdorrtes Wurzelwerk aus der Erde, werfen verblühte, graue Sonnenblumen in große Plastiksäcke. Dann füllen sie frisches Saatgut nach. Gleich gegenüber nahe dem Anschlagsort drängeln sich die Kamerateams und die Fotografen. Sie filmen und fotografieren die Utrechter, wie sie Blumen niederlegen. „Unsere Pflanzen hier“, sagt Peter, und seine Stimme stockt für einen Moment, „wenn die aufblühen, gehen sie hoffentlich nicht so arg schnell kaputt wie das Zeug da drüben.“ Dann schweigt er.
Zehn Minuten entfernt liegt gleich ums Eck vom Hauptbahnhof das modernste und größte islamische Gotteshaus von Utrecht, die Ulu-Moschee. Im Erdgeschoss residiert ein Schnellrestaurant, das sich „Kebap Factory“ nennt; im ersten Stock huschen hinter Glasbausteinen schemenhaft die Silhouetten von Betenden vorbei. Gürkan serviert in seinem Lokal eine scharfe Linsensuppe; er hält nicht hinter dem Berg mit seiner Meinung zum Anschlag in der Straßenbahn. „Dieser Mann, das ist nicht die Türkei, das ist kein Mann, das ist einfach nur zum Heulen.“ Den 37-Jährigen treibt eine diffuse Angst um, dass Türk*innen demnächst in Holland zur Zielscheibe von Übergriffen werden könnten.
Doch sein Kollege in der „Kebap Factory“ und er würden sich ihren Galgenhumor nicht nehmen lassen, auch nicht durch solch eine Tragödie: „Dann gebe ich mich ab jetzt eben als Italiener aus. Und mein Kollege da drüben als Hawaiianer.“ Als der Muezzinruf zum Gebet ertönt, bricht Gürkan vor Lachen fast in Tränen aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus