Schauspieler mit Behinderung: Pankows Litaneien

Erst war der Unfall. Dann das Koma. Nachdem Peter Pankow aufwachte und zum zweiten Mal sprechen lernte, hörte er nicht mehr auf.

Peter Pankow auf der Bühne: raumfüllend, ausgelassen, charismatisch. Bild: Theater Thikwa

sonntaz: Herr Pankow, wann haben Sie zum zweiten Mal sprechen gelernt?

Peter Pankow: Mit vier kam ich unters Auto, und vier Brüder hab ich. Mutter hat viel gearbeitet, Köchin, dann auch in der Fabrik. Der Vater war Bauarbeiter. Wir waren arm. Sehr arm heißt, man verdient wenig Geld.

Also der Unfall?

Der Autounfall war rasch. Das ist schon lange her. Ich war ein halbes Jahr im Koma. Dann noch mal von vorne reden lernen, Pampers, alles neu. Behindert sein heißt, dass man eingeschränkt ist. Meine Brüder haben mich beschützt, weil da waren ja viele Halbstarke.

Der Mann: Peter Pankow, Jahrgang 1968, ist ein preisgekrönter Maler und Schauspieler. Auf der Bühne greift er mit Charisma und Macht in das Geschehen ein. Im wirklichen Leben stößt er als Behinderter jedoch ständig an Grenzen.

Das Theater: Pankow gehört zum Ensemble des 1990 gegründeten Thikwa-Theaters in Berlin. In der Spielstätte erarbeiten Behinderte und Nichtbehinderte die Produktionen und treten gemeinsam auf. Thikwa ist ein künstlerisches und soziales Experiment.

Pankow ist Schauspieler – dunkle Haare, graue Bartstoppeln – ein schwerer Mann, der seine Körperhülle mit Schweiß, der die Brille beschlägt, und weichen Bewegungen abfedert. Beim Sprechen drückt er die Augen zusammen und lehnt sich zurück, um Platz für den Atem zu holen.

Und dann, als Sie wieder alles konnten?

Ich war Mutters Liebling. Ich habe die immer abgeküsst. Sie hat mich gehätschelt und getätschelt. Die hat sehr gut gekocht. Wir haben gekocht für neun Leute: Tante Berta, Tante Anneliese, Vater, Mutter, fünf Kinder. Mutter hat Köchin in der Schweiz gelernt. Sie ist auf der deutschen Seite von Polen aufgewachsen. Danzig oder so. Sie ist so 72 geworden. Ja, die hat viel geraucht. Sie war gastfreundlich, die hat sich um uns alle gekümmert.

Und die ganze Wäsche. Mein Bruder Bernd ist weggezogen mit der Freundin. Dann hat er sich getrennt und ist wieder zur Mutter. Ich war auch mal verlobt. Aber wenn es um Geld geht, gibt es Streit. Ich wollte nie arm sein, von Hartz IV leben. Es gibt die böse Gegenständlichkeit von Hartz IV: Man sitzt rum, spricht nur und hat am Ende nichts zu essen. Ich wollte Hollywood-Schauspieler werden. Ich wollte Würde und nicht Hartz IV.

Pankow sitzt in der Kostümbildnerei des Theaters Thikwa in einem Berliner Hinterhof in Kreuzberg. In den Regalen hinter dem aufgeräumten Arbeitstisch stehen durchsichtige Plastikkisten mit nach Farben sortierten Stoffen. Von hell nach dunkel, von Gelb, über Rot und Grün nach Blau. „Das Gelbe ist die Energie“, sagt er.

Ich bin Schauspieler, Puppenspieler, Künstler, Regisseur. Und ein guter Tänzer bin ich auch. Aber ich bin behindert und arbeite in einer Werkstatt. Manche hier werden nach Tarif bezahlt, ich nicht. Man sagt: Pankow, du meckerst nur rum. Pankow, du bist einsam, hast keine Frau, Pankow, du hast Angst, dass man dich überfällt. Die anderen haben eine Frau. Ich sammle auch Flaschen, wenn ich welche finde.

Pankow spielt im Theater Thikwa – ein Profi-Ensemble in Berlin ist es und gleichzeitig eine Behinderteneinrichtung. Die Arbeitsaufgabe: Theater spielen. Alle Schauspieler und Schauspielerinnen sind geistig oder geistig und körperlich gehandicapt. Pankow ist der Charismatiker unter ihnen, die Leitfigur, die, auf die sich alle verlassen können. Wenn er auftritt – in schwarzer Hose, schwarzem Jackett, weißem Hemd –, strömt ihm die Aufmerksamkeit zu. Er muss nichts tun und füllt den Raum. Er steht auf der Bühne, ist da, fängt mit einem kurzen Satz an.

Vielleicht mit: „Das ist eine Puppe.“ Und von da geht es weiter: „Eine Puppe kann man alt machen. Aber der Mensch wird jedes Jahr älter. Er muss irgendwann sterben. Dann versagt sein Herz. Aber bei der Puppe kann man ein Herz schnitzen.“ Was er jetzt sagt, jetzt, in diesem Atelier der Bühnenbildnerin, das könnte auch in einem Stück gesagt sein. Er sagt, was aus ihm herauskommt. Worte, Sätze, Gedankenfetzen, Assoziationsketten – geleitet vom Klang.

Erfinder bin ich auch noch. Ich erfinde Sprache und denke darüber nach, ob meine Sprache behindert ist.

Wollten Sie Schauspieler werden?

Ich bin schon dreißig Jahre Künstler. Ich war im Schultheater, da haben wir eine Form bekommen, weil die Leute gesagt haben, ich habe einen Redefluss. Fußball habe ich auch gespielt. Fußball und Theater. Die haben gesagt, ich habe Talent und Form. Aber sie müssen mich schleifen.

Und?

Ja, ich bin ein Diamant. Richtig sprechen, sich richtig äußern, ich kann reden ohne Punkt und Komma, aber hier hat man einen Schliff mit Pausen gemacht, und wie es ist, behindert zu sein, anders als die anderen zu sein.

Wenn Peter Pankow tanzt, wird ihm sein massiger Körper zum Verstärker. Er breitet die Arme aus, dreht sich, ist Propeller, Hubschrauber, Verführer – es braucht nicht viel. Die Zuschauer folgen seinen Bewegungen körperlich, wenngleich nur ganz leicht.

Sind Sie anders?

Ich kann buchstabieren. Ich bin schüchtern. Ich habe mich nie richtig mit der Frauenwelt auseinandergesetzt. Behindert zu sein und richtig Geld verdienen ist schwer. Und immer alles geschenkt bekommen, Almosen, und nur in der Werkstatt arbeiten ist richtig schwer. Ich mache Ergotherapie und gesellschaftliche Auseinandersetzung. Ich habe mit mir und meiner Sexualität, den Gefühlen Probleme.

Ich muss lernen, Pausen zu machen. Meine Sprache ist ’ne andere, als normal zu sein. Einen Monat lang war ich Koch, einen Monat lang war ich Gärtner. Dann Schauspieler in der Werkstatt. Ich wollte nicht gern behindert sein. Ich kam unter ein Auto. Wir lebten in Waidmannslust in einer Laube, später im Märkischen Viertel im vierten Stock. Berlin. Meine Mutter sagte immer, ich sollte eine Petra werden.

Ihre Mutter hatte vier Söhne, bevor Sie auf die Welt kamen.

Gerd, 53, ist Fabrikarbeiter. Bernd, 48, ist krank, arbeitslos, er hat ein kaputtes Bein. Thomas, 47, ist Fabrikarbeiter, arbeitet, isst, ist kugelrund. Uwe ist ein Jahr älter als ich. Er hat ’ne halbe Freundin, Maßnahmen, Hartz IV. Ich bin am 8. November 1968 geboren.

Die Brüder waren eifersüchtig auf mich. Bernd ist sauer, weil sein Bein nicht heilen tut. Ich habe Mutter geliebt, aber wenn die sich gestritten haben, dann konnte ich es nicht aushalten. Die Brüder haben gestritten. Die haben Mutter auch sehr geliebt und stellen heute noch Kerzen auf. Der Bernd hat keinen Job, und ich hab keine Freundin.

Ist das ungerecht?

Die Sozialamtsfrau sagt, du kannst nicht schreiben, aber ich kann einigermaßen lesen. Ich träume von einer Traumfrau, aber wenn ich eine Frau ganz normal umarme, habe ich Angst, dass meine Hand ihre Brust berührt. Ich habe mich eingesperrt, gebissen, weil ich nicht weiß, wie ich der Frau nicht unter den Rock fassen kann. Wenn du behindert bist, bist du wie zweite Wahl. Normal sein heißt, dass du keinen Betreuer brauchst, der für dich mitdenkt. Du hast manchmal ein Benimm ohne Ahnung. Ich muss alles lernen, um korrekt zu sein.

Wovon träumen Sie?

Richtig Schauspieler werde ich nicht sein, weil ich einen Betreuer brauche für das Geld. Ich wohne allein, betreutes Einzelwohnen. Wenn ich allein bin, kaufe ich ein oder gehe schwimmen, Tischtennis spielen. Behindert sein heißt, eingeschränkt sein in seinen Mitteln. Manchmal traue ich mich nicht, allein rauszugehen wegen Nazis und so.

Man braucht Mut. Die Leute sagen Wichser, Arsch. Es gibt genug arbeitslose Trinker, saufen sich die Hucke voll auf der Bank und schimpfen auf Ausländer und die Behinderten. In Gesellschaft ist es eine Moral, Angst zu haben vor allem, was anders ist.

Obwohl er gerade in der Kostümbildnerei sitzt, steht Peter Pankow jetzt auf der Bühne. Er spielt die Rolle seines Lebens: Er spielt sich selbst.

Das Thema Geld ist wie ’ne Droge. Das Thema Geld ist ’ne Schleife. Du bist verrückt im Kopf, und dann findest du die Frau schön, aber die Frau will nichts von dir wissen. Dann machst du die Sehnsuchtshucke voll. Ich feiere auch mal. Es gibt kein Tabu ohne Laster. Ich fühle mich wie Jekyll und Hyde. Bist du reich und verlogen oder arm und ehrlich? Ich fühle mich zweigeteilt. Ich lerne lange. Ich berühre nicht.

Jekyll und Hyde – sind Sie Ihr eigener Doppelgänger, Herr Pankow?

Ich war verlobt. In einer Fantasiewelt träume ich von Kindern. Aber ich bin behindert. Wir sind wie Freaks. Wir brechen die Schallgrenzen auf dem Weg des guten Geschmacks. Wir leben vom Sozialamt, wir leben von anderen Knochen. Als Behinderter ist man ein Untersuchungsfall, ein Probierproblem. Ständig musst du mit Psychologen sprechen: Wann fing das an, mit den Frauen unter den Rock gucken? Wann, sich wie ein Halbirrer zu benehmen? Hihi. Haha.

Pankow schwitzt, Pankow wischt sich mit einem Taschentuch die Stirn. Die Luft ist schlecht. Der Raum hat kein Fenster.

Ich will meine Mutter wiederhaben. Ich will Geld haben. Ich will keinen Betreuer. Ich beiße mir in den Arm. Wenn ich wütend bin, beiß ich in meinen Arm. Das verheilt nie.

Am Ende eines Worts ein neues Wort. Am Ende eines Satzes ein Sprung.

Du musst alles mit Sündenkuss zurückzahlen: Darf man Tabuthemen überhaupt auf die Bühne bringen, ohne die Menschenrechte zu verletzen? Darfst du saufen oder auf den Busen linsen? Wenn du arm bist, ist alles Moral, wenn du reich bist, nicht. Aber wenn du jemanden an den Busen fasst, kommt der Vater und zieht dich zur Rechenschaft. Heute sagt man, du bist behindert, aber sie gucken nicht zu den Nazis, den U-Bahn-Schlägern, die saufen und versuchen, das Gewissen auszuschalten.

Die machen zu viel mit der Playstation rum oder gucken Adolf-Filme, und dann flippen sie aus und sind radikal, aber nicht behindert. So viel Fernsehen, so viel Fußball, so viel Alkohol und dann der Frau unter den Rock – aber die bekommen keine Betreuer. Die Gesellschaft ist ungerecht und manchmal kann man sich nicht wehren.

Nach diesem Auftritt führt Pankow durch die Werkstatt. Im Kunstatelier breitet er die Bilder, die er unlängst im Stück „Pankow Protokolle“ malte, auf dem Boden aus. Riesige Blätter, Strukturen, Formen, Figuren. Farbstark, obsessiv, den ganzen Raum einnehmend. Zum Redefluss kommt bei Pankow der Strichfluss, der Farbfluss. Eins geht ins andere über.

Pankow beschreibt ein Bild: „Der polternde Stuhl macht Knack im System, und dann ist die Energie weg.“ Und ein anderes: „Das ist ein schöner, hungriger, dünner Mann mit Doppelkopf. Er guckt was von der Frau ab.“ Und auf dem nächsten Bild findet er die zentrale weibliche Figur, eine Übermutter, eine Urmutter: „Unattraktiv. Verspottbar.“

Corinna M., eine dünne verschüchterte Autistin, gesellt sich zu Pankow und wandert mit ihm im Labyrinth seiner Bilder. Sie deutet auf eines mit Figuren in Gelb, in Orange. „Die Knie sind sehr gut“, sagt sie.

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