Schattenbericht nach dem NSU-Urteil: Kein Schlussstrich
Der Türkische Bund veröffentlicht nach dem NSU-Urteil einen Schattenbericht. Der Verein fordert eine Kontrollinstanz für den Verfassungsschutz.
Hinterbliebene der Opfer, Aktivisten und Kritiker des NSU-Prozesses sagten „Kein Schlussstich“, als vergangene Woche die Urteile im Oberlandesgericht München fielen. Eine Woche nach dem Urteilsspruch präsentiert der Türkische Bund in Berlin Brandenburg (TBB) einen „Schattenbericht“ mit dem Titel „NS-Mordserie. Staatsversagen. Rassismus – und Konsequenzen“. Für den knapp 90-seitigen Bericht mit dem Untertitel „Das NSU-Urteil und die Grenzen des Rechtsstaates“ hatte der TBB den Politikwissenschaftler Hajo Funke beauftragt, der die offizielle Aufarbeitung der NSU-Verbrechen scharf kritisiert.
Im seinem Bericht schreibt der Autor, dass „sowohl das Gericht als auch der Generalbundesanwalt es abgelehnt haben, das Verfahren auf das Umfeld der Angeklagten auszuweiten.“ Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl habe den Prozess lediglich „gemanagt“ und auf ein „revisionsdichtes Urteil“ statt eine lückenlose Aufklärung abgezielt.
„Wir haben eine historische Chance verpasst. Der NSU-Prozess war eine solche“ sagt Funke. Seine Analysen basieren auf eigenen Beobachtungen von Untersuchungsausschüssen, insbesondere den beiden des Bundestags, außerdem aus Sachverständigen-Gutachten, die er für die Untersuchungsausschüsse in Thüringen, Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfallen und Brandenburg verfasst hatte.
Ayşe Demir, Sprecherin vom TBB, sagt bei der Vorstellung des Berichts in Berlin, es sei „emotional schwer zu ertragen“, dass der Prozess zu Ende gegangen und dennoch keine lückenlose Aufklärung erfolgt sei. Sie erinnert an die Worte der Bundeskanzlerin Merkel, die den NSU als „Schande für Deutschland“ bezeichnet hatte – und fügt hinzu: „Die fehlende Aufklärung ist eine weitere Schande.“
Verwicklungen des Verfassungsschutzes
Der TBB veröffentlichte den Bericht am 18. Juli, just an dem Tag, an dem das Oberlandesgericht München den Haftbefehl gegen Ralf Wohlleben aufhob. Wohlleben war in der Woche zuvor zu zehn Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen verurteilt worden, weil er laut Gericht die Tatwaffe besorgt haben soll. Zuvor war bereits André Eminger, ein weiterer NSU-Helfer, der am 11. Juli zu zweieinhalb Jahren verurteilt worden war, auf freien Fuß gekommen.
Funke geht in seinem Bericht vor allem der Rolle des Verfassungsschutzes bei der Verhinderung einer lückenlosen Aufklärung nach. Es gebe wichtige Indizien dafür, dass verschiedene Landesbehörden, vor allem jene in Thüringen, mit der Neonaziszene verstrickt gewesen seien. Um sich selbst vor Konsequenzen zu schützen, hätten sich die Behörden letztlich gegen eine Aufklärung gestellt.
In der Einleitung des Berichts schreibt Funke, dass „Teile der Sicherheitsbehörden durch ihre informationelle Beteiligung und ihr Wissen um die Verbrechenstaten rechtsextremer Gewaltgruppen sich in einem Maße verstrickt haben, dass sie ohne schweren Schaden für sich daraus nicht mehr herausgekommen wären“.
Funke argumentiert zudem, dass dieses Handeln der Verfassungsschutzbehörden besonders verheerend ausfiel, da sie in die Zeit der 1990er Jahre fiel, in der ein gewalttätiger Rechtsextremismus florierte, insbesondere in Thüringen. Im Kapitel „Bittere Bilanzen der Opfer-Familien“ lenkt Funke den Blick auf die Hinterbliebenen, die durch die rassistischen Verdächtigungen und eine verweigerte Aufklärung der Taten ein zweites Mal traumatisiert worden seien. Im Bericht ist so von einer „Täter-Opfer-Umkehr“ die Rede.
Forderungen nach NSU-Urteil
Funke und TBB fordern, dass der Verfassungsschutz alle bisher im Aufklärungsprozess vorenthaltenen Dokumente offenlegt und Aussagegenehmigungen für alle involvierten Personen erteilt. Eine „fundamentale Reform“ der Verfassungsschutzbehörden solle erfolgen – oder diese abgeschafft werden, wenn keine Reform erfolgen sollte. Konkret fordert der Bericht eine unabhängige und übergeordnete Kontrollinstanz für den Verfassungsschutz, ähnlich dem US-amerikanischen Sonderermittler, der „unmittelbar Akten anfordern und eigene Ermittlungen anstellen kann“ sowie mehr Kompetenzen für Untersuchungsausschüsse.
Bei der Präsentation des Berichts in den Geschäftsräumen des TBB in Berlin geht es immer wieder um das Problem vorenthaltener Informationen, um gezielte Vertuschung und Desinformation. Safter Çınar, Vorstandsmitglied des TBB, sagt über einen Bericht, den das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz (über Kontakte des NSU-Trios) erstellt hatte und der für 120 Jahre in Verschluss gehalten werden soll: „Das werden selbst unsere Enkel nicht mehr erleben.“
Hajo Funke ist dennoch optimistisch: „Ich bin davon überzeugt, dass wir in den nächsten fünf Jahren das eine oder andere Entscheidende erfahren werden.“ Er und der TBB wissen zugleich, dass diese entscheidenden Informationen nicht von alleine ans Tageslicht kommen werden. Funke sagt: “Wir müssen uns dafür anstrengen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!