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Schallschutz aus LehmDas Erbe von Beuys in der Prignitz

Im Dörfchen Nebelin baut die Künstlerin Ute Reeh an der sozialen Plastik. Hier wird innovativer Lärmschutz aus Lehm entwickelt.

Statt Beton: am Rande der Autobahn zwischen Magdeburg und Prignitz soll Lehm vor Lärm schützen Foto: Sebastian Bertalan

An einem heißen Tag im Sommer steht die Künstlerin Ute Reeh bis zum Bauch in einem Graben. Auf ihrem Hof im tiefsten Brandenburg gräbt sie mit Spaten und bloßen Händen nach einer defekten Wasserleitung. Der marode Vierseitenhof muss wieder an die Wasserversorgung, wenn sie Ernst machen und aus Düsseldorf in das 180-Seelendorf Nebelin in der Prignitz ziehen möchte.

Auch in einem Gebäude selbst muss ausgebessert, müssen zugige Ritzen in den alten Lehmwänden verspachtelt werden. An diesem Tag, mit den Füßen im Graben, wird Ute Reeh 2014 klar, dass das Material für die Sanierung des Hofs direkt vor ihrer Tür liegt. Dass die lehmige Erde, die sie gerade ausgehoben hat, genau das ist, was sie für den Hof braucht.

Zu den ersten Menschen, die die heute 58-jährige Künstlerin in Nebelin trifft, gehört ihre Nachbarin Edelgard Gielow. Gielow ist heute eine Vertraute Reehs und eine Referenz für die Stimmung im Dorf. Als die Künstlerin aus dem Westen sie das erste Mal anspricht, ist Gielow gerade im Garten beschäftigt. „Sie sagte zu mir, dass es hier so herrlich ruhig sei. Da habe ich gleich erwidert: ‚Noch ja, aber nicht mehr, wenn die Autobahn hier gebaut wird‘“, erinnert sich die 82-Jährige, die erklärte Gegnerin des Weiterbaus der Autobahn ist.

Die Autobahn rückt näher

Noch ist die Bundesautobahn 14 unvollendet. Das letzte Teilstück zwischen Magdeburg und der Prignitz soll bis spätestens 2030 geschlossen sein. Dann wird die Fahrbahn auf einen Kilometer an Nebelin heranrücken, wird das Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe-Brandenburg queren und damit bislang unzerschnittene Landschaft teilen. Ausgestattet mit diesem Wissen hätte die Großstädterin Ute Reeh aufgeben können, hätte den Hof verkaufen und zurück nach Düsseldorf ziehen können. Stattdessen wird sie den Hof zum „Zentrum für Peripherie“ und damit zu einem zentralen Ort ihrer Arbeit erklären.

Als die Autobahnmanager im Februar 2019 in das Dorf kommen, dort Rede und Antwort stehen, kommt Reeh die Idee, der drohenden Flächenversiegelung eine Ausgleichsfläche entgegenzusetzen. Vertikal ausgerichtet und aus Naturmaterial. Wenn sich die Autobahn nicht verhindern lässt, soll zumindest das Dorf von ihr abgeschirmt sein: mit einer Lärmschutzwand aus Lehm.

Kindern einer angrenzenden Schule werden der Idee später den Namen „Prignitzer Lehmlärmschutz“ geben. Die Raststätte, die nahe dem Dorf geplant ist, auch sie soll aus Lehm gebaut werden. Innerhalb von Monaten wird aus dieser Idee ein ökologisches Vorzeigeprojekt, das die Bundesanstalt für Straßenwesen ebenso interessiert wie die Bundesstiftung Baukultur. Erst Ende 2021 sind dem Vorhaben 880.000 Euro aus dem früheren Parteienvermögen der DDR zugesagt worden.

„Naturschutz hochklappen“

Noch ist nichts gebaut, aber was in dem kleinen Dorf erprobt wird, könnte bundesweit ausstrahlen. Dann nämlich, wenn die Idee des „Naturschutz hochklappen“ aufgeht und statt aus Aluminium oder Beton Wände aus bloßer Erde sich in die Landschaft einpassen und Insekten, ­Fledermäusen und Vögeln Unterschlupf bieten.

Dennoch: Als ökologische Innovation für den Straßenbau wird man dem, was in der Prignitz geschieht, nicht gerecht. Ute Reeh ist bildende Künstlerin und macht als solche die Menschen aus der Region zu Mitstreitern, gewinnt Nachbarn, kommunale Vertreter und international renommierte Lehmbauer für ihre Idee.

Es geht nicht nur darum, das anmaßende Bauvorhaben der selbsternannten „Alhambra Brandenburgs“ umzusetzen – auch die gewaltige mittelalterliche Palastanlage in Granada ist ein Lehmbauwerk. Ziel ist vielmehr, ein Umdenken im Bausektor zu provozieren, dem Lehm als Baumaterial zur Renaissance zu verhelfen und der Brandenburger Peripherie zu bundesweitem Ansehen.

Für die selbsterklärte „Zwangsmanagerin“ Ute Reeh ist das Manövrieren zwischen der Realität des Asphalts und den Träumen der Kunst der politische Teil ihrer Arbeit, den es auszuhalten gilt. „Ich halte den Projektprozess wie eine Skulptur in den Händen, und zwar so behutsam wie möglich“, beschreibt sie den Kern ihrer Arbeit. Es ist die Idee der Avantgarde, die Kunst aus ihrem Korsett von Atelier und Galerie zu befreien und die Räume des künstlerischen Schaffens und der Alltagsrealität deckungsgleich werden zu lassen.

Das Erbe von Beuys

Die Herausforderung liegt weniger darin, Lehm zu einer fünf Meter hohen und hunderte Meter langen Mauer aufzuschichten, sondern darin,, „eine Gesellschaftsordnung wie eine Plastik zu formen“, um den künstlerischen Übervater Joseph Beuys zu bemühen.

Für Beuys lag das Erbe von Kunstströmungen wie Fluxus und Happening darin, weg von Skulpturen und Leinwänden zu kommen, vielmehr einen radikal erweiterten Kunstbegriff zu vertreten und die Menschen selbst zu Gestaltern ihrer sozialen, ökologischen, politischen Umwelt zu ermächtigen. Nichts als das steht hinter dem zu Tode zitierten Wort, dass alle Menschen Künstler seien. Dann nämlich, wenn sie mit an der sozialen Plastik bauen.

Später wird sie in Beuys Wahlheimat Düsseldorf studieren und Meisterschülerin des Fluxus-Video-Künstlers Nam June Paik werden

Ute Reeh selbst weißt diesen Vergleich nicht zurück, schränkt aber ein. „Beuys ist ein Künstler, den ich schätze.“ Zugleich sei er, wie auch der Minimalist Donald Judd, einer von vielen künstlerischen Einflüssen. Sie, die in München geborene Tochter eines Quantenfeldtheoretikers und einer Mathematikerin, beginnt nach der Schule ein Mathematikstudium. Zwei Monate hält sie durch, entscheidet sich dann für ein Kunststudium in Kassel.

Als Beuys dort 1982 anlässlich der Documenta 7 seine 7.000 Eichen pflanzt und „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ propagiert, ist die 24-Jährige vor Ort. Den Künstler mit Hut und Weste erlebt sie, als er ungeliebte Arbeiten von Studenten mit seiner Unterschrift versieht und sie so unantastbar macht. Später wird sie in Beuys Wahlheimat Düsseldorf studieren und Meisterschülerin des Fluxus-Video-Künstlers Nam June Paik werden.

Die Kritiker werden weniger

Mehr als 30 Jahre später ist Beuys lange tot, sein künstlerisches Erbe jedoch lebt auch dort, wo niemand danach sucht – im unscheinbaren Dorf Nebelin. Wenn Ute Reeh hier einen Workshop durchführt, Bauingenieure, Dorfbewohner und Wissenschaftler zusammenführt, dann werden alle gleichwertig einbezogen, ob Lehmbaukoryphäe oder Handwerker aus dem Dorf. Nicht jeden mag das überzeugen, aber die Zahl der Kritiker sinkt mit jedem überheißen Sommer, der den abstrakten Klimawandel greifbar macht.

So hat es auch Martin Rauch erfahren, ein Pionier des Lehmbaus aus dem österreichischen Vorarlberg. Schon 1984 beteiligte er sich an einem Wettbewerb für innovativen Lärmschutz an Österreichs Autobahnen, den SPÖ-Bauminister Heinrich Übleis ausgerufen hatte.

Der 26-Jährige gewann den ersten Preis in der Kategorie „Kunst“ und sollte nun seine Idee an einem 2,5 Kilometer langen Abschnitt nahe Graz verwirklichen. Dann kamen Wahlen und mit Robert Graf ein neuer Bauminister von der konservativen ÖVP. Das Vorhaben wurde eingestampft.

Heute, ist Martin Rauch überzeugt, gibt es ein stärkeres Interesse an ökologischen Alternativen im Bauwesen. „Der größte CO2-Produzent ist die Baustoffindustrie. Wenn man das gravierend ändern will, kommt man zweifellos auf die Idee des Lehmbaus“, sagt er. Rauch selbst war in jungen Jahren schon auf Lehm als Baumaterial gestoßen – in Afrika. Als eines von sieben Kindern hatte er es seinen Geschwistern gleichgetan und war als Entwicklungshelfer in den Senegal gegangen, hatte dort die Vorzüge des Bauens mit Lehm erlernt.

Kein Beton, kein Aluminium

Kein Beton, kein Aluminium muss produziert und zur Baustelle gefahren werden. Die Erde, die beim Bau der A14 anfällt, könnte direkt zur vertikalen Ausgleichsmaßnahme aufgetürmt werden und so dem Flächenverbrauch entgegenwirken.

Und: Durch die poröse Oberfläche ist Lehm überaus schallschluckend. Technisch lasse sich eine freistehende Schutzmauer aus Lehm umsetzen, sagt Rauch. „Die größte Herausforderung ist nicht die Technik, sondern es sind die Kosten und das Vertrauen. Noch will niemand Verantwortung für diese Bauweise übernehmen.“ Mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit und dem Vermögen, Menschen für das Vorhaben zu begeistern, habe es Ute Reeh da schon weit gebracht.

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