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Schachtalent Vincent KeymerEin neuer deutscher König auf dem Brett

Ausgerechnet in Chennai deklassiert Vincent Keymer die indischen Jungstars. Und schafft etwas, was bislang nur Großmeister Robert Hübner gelang.

Auch diese Partie gewinnt er: Vincent Keymer in Runde 2 der Chennai Grand Masters am 8. August Foto: Seshadri Sukumar/imago

Indien beansprucht, das Mutterland des Schachs zu sein. Unabhängig davon, ob das alte Denkspiel vor mehr als 1.500 Jahren seinen Siegeszug auf dem Subkontinent oder im alten Persien begann, lässt sich mit Sicherheit festhalten: Indien ist zumindest aktuell der Nabel der Schachwelt.

Vor allem Chennai, das frühere Madras. Von hier stammt neben dem 19-jährigen Weltmeister Dommaraju Gukesh auch Viswanathan Anand. Anand, „Der Tiger von Madras“, hatte mit seinem Titelgewinn den Schach-Boom auf dem Subkontinent ausgelöst. Just in Chennai führte der erst 20-jährige Vincent Keymer beim Großmeisterturnier jetzt die junge Elite Indiens vor. Und schoss mit seinem grandiosen Turniererfolg in der Weltrangliste von Platz 21 auf zehn vor.

Damit ist Keymer nach Robert Hübner der zweite Deutsche, der in der 1971 eingeführten Elo-Weltrangliste die Top Ten erreicht. Der am 5. Januar mit 76 Jahren verstorbene Hübner war 1981 sogar bis auf Platz drei geklettert.

Mit seinem vierten Sieg in Runde sieben katapultierte sich Keymer in der virtuell geführten „Live-Elo-Weltrangliste“ also auf Platz zehn. „Zum ersten Mal in die Top Ten der Welt aufzusteigen, ist für mich ein ganz besonderer und unvergesslicher Moment“, betonte er auf X (vormals Twitter) direkt danach. Sogar die indischen Medien feierten den Großmeister aus Mainz für eine „unglaubliche Performance“.

Keymer lässt trotz Vorsprung nicht locker

Wer nun glaubte, der junge Rheinland-Pfälzer würde das Turnier gemütlich auslaufen lassen, irrte sich: Selbst als nach einem Remis gegen den Niederländer Jorden van Foreest sein Turniersieg in der vorletzten der neun Runden angesichts von 1,5 Punkten Vorsprung bereits feststand, ließ Keymer, der in Deutschland für den Bundesligisten OSG Baden-Baden spielt, nicht locker.

Mit den schwarzen Steinen bezwang Keymer den US-Amerikaner Ray Robson und lag mit 7:2 Punkten vor dem Niederländer Anish Giri, dem Weltranglistenfünften Arjun Erigaisi und Großmeister Murali Karthikeyan (beide Indien). Zwei Punkte Abstand sind nicht nur ein Klassenunterschied – das sind Welten im Schach.

Selbst dem Weltranglistenersten Magnus Carlsen gelingen kaum solche Triumphe. Die Elo-Zahl des Norwegers liegt bei 2839.

Mit seiner Performance von 2917 übertraf Keymer diese Leistungsziffer von Carlsen um stolze zehn Prozent, also knapp einen vollen Punkt aus den neun Runden. Mit einem Plus von 21 Zählern auf 2751 Elo rückte Keymer sogar dem stärksten Chinesen Wei Yi auf Position neun bis auf zwei Elo auf die Pelle.

Kein Wunder, dass nun die Träume der deutschen Schach-Fans so blühen wie die eines Keymer-Sponsors, der schon im Vorjahr den WM-Titel als Ziel ausgab. Keymer will nun bei einem der anstehenden Qualifikationsturniere auftrumpfen und die Hand nach der WM-Krone ausstrecken.

Deutschland bald wieder Nabel der Schachwelt?

Im Dunstkreis dieser befand sich Keymer bereits, als er Ende 2024 Gukesh als Sekundant half, den Chinesen Ding Liren zu entthronen und mit 18 jüngster Schach-Weltmeister aller Zeiten zu werden. Und als einer der wenigen Großmeister zeigt Keymer auch keine Angst vor Dominator Carlsen, der den WM-Titel in mühsamen wochenlangen Zweikämpfen nicht mehr verteidigen wollte und freiwillig abtrat.

Sein Potenzial bewies der jüngste deutsche Großmeister mit Siegen über den 34-jährigen Norweger. So eliminierte er diesen bei einem Freestyle-Turnier in Weissenhaus im Februar im Halbfinale und schlug hernach im Endspiel mit dem Weltranglistendritten Fabian Caruana den nächsten Hochkaräter.

Unbeeindruckt zeigte sich Keymer auch nach dem Brand im Hotel Hyatt Regency, dem Veranstaltungsort der Chennai Grandmasters. Der Turnierstart verzögerte sich aufgrunddessen am 6. August um einen Tag. Und Keymer legte danach los wie die Feuerwehr: Er gewann die ersten drei Partien gegen indische Großmeister. Danach folgten drei Remis, darunter gegen den vom Weltranglistenplatz zehn verdrängten Giri und gegen Erigaisi, sowie ein vierter Sieg über den US-Amerikaner Awonder Liang.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Deutschland der Nabel der Schachwelt. Emanuel Lasker war von 1894 bis 1921 der am längsten amtierende Weltmeister – und sein Erzrivale und schärfster Konkurrent, Siegbert Tarrasch, galt als „Lehrmeister der Deutschen“. Spielt Keymer weiter so fulminant und erfüllt sich seinen WM-Traum, könnte das Schach-Mekka aus Chennai an deutsche Stätte zurückkehren.

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