Sauerstoffmangel in der Coronapandemie: Lateinamerika in Atemnot
In Peru und Kolumbien ist Sauerstoff knapp. Die Industrie hat das Monopol über die Herstellung. Gesundheitssysteme sind sich selbst überlassen.
In Mexiko, Brasilien und Peru ist die Sauerstofflage schon lange kritisch. Zwar hat Peru keinen Präsidenten wie Brasilien, der die Pandemie zum „Grippchen“ verharmlost, dafür aber ein schon vor der Pandemie marodes öffentliches Gesundheitssystem und ein riesiges Problem mit Korruption.
Vor der zweiten Welle vergab Peru einen Großauftrag zum Bau von 47 Sauerstoffanlagen an die staatliche Universidad Nacional de Ingeniería (UNI). Bis Februar waren gerade einmal fünf installiert. Kein Wunder – Recherchen des Portals Sudaca belegen, dass die UNI bei der Auftragsannahme sträflich gepfuscht und fachlich nicht qualifiziertes Personal dafür angestellt hatte, nämlich aus dem Dunstkreis von Ex-Präsident Martín Vizcarra. Im März zog der aktuelle Präsident Francisco Sagasti die Reißleine und kündigte den Vertrag mit der UNI.
Weil der Staat ausfällt, sind viele Organisationen der Zivilgesellschaft aktiv geworden. Gemeinden, Kirchen, Betriebe, ganze Dörfer haben Geld gesammelt, um in ihrer Ortschaft oder ihrem Gesundheitsposten eine Sauerstoffanlage einrichten zu können. Die erste spendete die katholische Kirche für die Amazonashauptstadt Iquitos Sie sammelt weiter. Doch das reicht nicht. 13 Regionen des Landes sind in massiver Gefahr, warnt die Gesundheitsaufsichtsbehörde Superintendencia Nacional de Salud.
Flaschen oft nicht desinfiziert
Peru war lange eines der wenigen Länder, das nur medizinischen Sauerstoff mit einer Reinheit von 99 Prozent erlaubte – was im Land zu einem Monopol der Unternehmen Linde/Praxair und AirProducts geführt hatte und die kleineren Firmen eingehen ließ. Unter öffentlichem Druck senkte die Regierung diese Anforderung in der Pandemie schließlich auf 93 Prozent, wie vielerorts üblich.
Auch in Kolumbien ist die Sauerstoffkrise dramatisch. Die Preise sind trotz der angespannten Situation gleich geblieben. Die Kammer für industrielle und medizinische Gase rief die Kolumbianer*innen auf, nicht auf informelle Händler*innen zurückzugreifen. Oft seien deren Flaschen nicht ausreichend desinfiziert und könnten Covid-19 verbreiten. Außerdem sei Sauerstoff ein verschreibungspflichtiges Medikament, das die Krankenkassen bezahlen und mit dem man sich nur nach ärztlichem Rat behandeln dürfe.
Carolina Corcho von der Kolumbianischen Ärztekammer
Das alles passiert in einer Zeit, in der trotz – oder gerade wegen – des Höhepunkts der dritten Coronawelle seit Ende April Tausende Kolumbianer*innen im ganzen Land auf die Straße gegangen sind und laut Angaben der Nichtregierungsorganisation Temblores mindestens drei von der Polizei erschossen wurden. Grund für die Proteste ist hauptsächlich die Steuerreform.
Das Land steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Bezahlen sollen vor allem die Armen und die Mittelschicht: Kolumbianer*innen, die mehr als 690 Dollar im Monat verdienen, sollen fortan Steuern zahlen. Bis jetzt galt das erst bei einem doppelt so hohen Gehalt. Auch soll die Mehrwertsteuer auf viele Lebensmittel erhöht werden.
Regierung setzt auf Selbstschutz der Menschen
Viele beklagen zudem das Missmanagement der Pandemie. Die umgerechnet rund 40 Dollar Unterstützung für die Armen reichten nicht, damit diese zu Hause bleiben können, statt arbeiten zu gehen. Die Regierung habe „die Verantwortung auf den Selbstschutz der Bürger*innen abgeschoben und die öffentliche Gesundheitspolitik vernachlässigt“, sagt Carolina Corcho, Vizepräsidentin der kolumbianischen Ärztekammer, in einem Radiointerview.
Sie und ihre Kolleg*innen hatten für viele Regionen des Landes vergeblich mindestens zwei Wochen komplette Quarantäne gefordert, um die Ansteckung einzudämmen. Trotz Warnung vor Menschenansammlungen zeigt Corcho Verständnis für die Proteste: „Die Leute gehen auch auf die Straße, weil die Gesundheit der Kolumbianer geopfert wird“, sagt sie. Und: „Diese Steuerreform greift auch das Gesundheitssystem an.“
Mitte April hat das Handelsministerium per Dekret den Zoll auf importierten Sauerstoff aus den USA und Ecuador bis Ende Mai auf null Prozent gesenkt. Doch Ecuador hat den Export verboten, weil der Sauerstoff auch im eigenen Land knapp wird.
Einer von fünf Covidkranken braucht medizinischen Sauerstoff. Wenn zu viele Menschen gleichzeitig erkranken, kollabiert das System. So einfach ist die Rechnung, vor allem in ärmeren Ländern.
Das Monopol über die Sauerstoffherstellung
Der Bau von Anlagen für flüssigen Sauerstoff ist extrem teuer, erklärt Evan Spark-DePass der BBC. Normalerweise tätigen diese Investitionen private Firmen. Die müssten sich der Nachfrage sicher sein. 90 Prozent der Produktion so einer Anlage sind deshalb in der Regel Sauerstoff für Stahl- und Chemieindustrie. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass eine private Firma eine Anlage rein für medizinischen Sauerstoff baue. Drei Firmen beherrschen 69 Prozent des weltweiten Industriegasmarkts: Air Liquide, Linde und Air Products.
Die Direktorin der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (OPS), Carissa F. Etienne, warnte vor Kurzem, dass in der dritten Aprilwoche jeder vierte der Covidtoten weltweit in Lateinamerika gestorben sei. Die New York Times spricht sogar von mehr als jedem dritten.
Das liege vor allem daran, dass immer mehr junge Menschen erkrankten, die noch keine Impfungen bekommen haben. Außerdem sind immer aggressivere Varianten unterwegs. Die Infektionen steigen besonders in Peru, Bolivien, Argentinien und Uruguay, das lange als lateinamerikanisches Ausnahmeland galt. Etienne rief Staaten mit überschüssigen Impfstoffen auf, diese an lateinamerikanische Länder zu spenden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs