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Sasha Filipenko über die Lage in Belarus„Wir sind die Mehrheit“

In Belarus sind Journalisten und Künstler unter Druck. Unglaublich, dass so etwas 2021 mitten in Europa geschehe, sagt Schriftsteller Sasha Filipenko.

Protest in Minsk im November 2020 Foto: imago
Jens Uthoff
Interview von Jens Uthoff

Der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko war während der Proteste der Freiheitsbewegung regelmäßig in Minsk, verließ aber das Land, als er Gefahr lief, verhaftet zu werden. Aktuell hält er sich im Rahmen eines Stipendiums in Montricher in der Schweiz auf. Dort erreichen wir ihn per Videochat. Ruth Altenhofer dolmetschte.

taz: Herr Filipenko, die jüngsten Nachrichten aus Belarus legen nahe, dass jeder aus der Kultur-, Medien- und Literaturbranche von der Straße weg verhaftet werden kann. Wie beurteilen Sie die Lage derzeit?

Sasha Filipenko: Ja, das stimmt. Der Dichter Dmitri Strozew bekam 13 Tage Arrest, die Übersetzerin Volha Kalackaja ist immer noch in Haft. Mein Verleger Boris Pasternak wurde bei einer Protestaktion verhaftet. Polizisten karrten ihn in einem Gefängnistransporter durch Minsk – erst als sie feststellten, dass er 74 Jahre alt ist, ließen sie ihn frei. Egal ob man Journalist, Autor oder ein ganz normaler Bürger ist, man kann jederzeit festgenommen werden – dafür, dass man rot-weiße Kleidung trägt oder mit dem Fahrrad auf der Straße fährt. Ich selbst stand auf einer Liste, auf der insgesamt drei Fernsehmoderatoren aufgeführt waren – denn ich arbeite nicht nur als Schriftsteller, sondern auch für eine TV-Satireshow. Als ich im September meine Heimatstadt Minsk besucht habe, wurde ich zum Glück rechtzeitig gewarnt und habe das Land verlassen. Die beiden anderen kamen in Haft.

Was haben Ihnen Freunde und Kollegen zuletzt berichtet?

Viele sind ausgereist. Zum Beispiel mein Freund Maxim Choroschin. Er ist Inhaber eines Blumenladens und hat an die Demonstranten auf der Straße Blumen verteilt. Er wurde von der Polizei grausam misshandelt und hat inzwischen das Land verlassen. Auch Marija Kolesnikowa, einer der beiden Mitstreiterinnen der Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja, bin ich mehrmals begegnet. Sie sitzt immer noch im Gefängnis, das geht mir nahe. Gefreut hat mich, dass die Journalistin Nadeschda Kalinina von der unabhängigen Nachrichtenplattform TUT.BY freigelassen wurde. Andererseits ist das, was sie von den Haftbedingungen berichtet hat, entsetzlich. Unglaublich, dass so etwas 2021 mitten in Europa geschieht. Ich habe kürzlich einen Artikel für die Süddeutsche Zeitung geschrieben, in dem es um die Attacken auf die Journalisten geht. Es ist ein regelrechter Krieg, den der Staat ihnen erklärt hat.

Bild: Lukas Lienhard/Diogenes Verlag
Im Interview: Sasha Filipenko

36, ist in Minsk aufgewachsen. Er hat in St. Petersburg Literatur studiert, wo er heute auch lebt und arbeitet. In seinem Roman „Rote Kreuze“ (Diogenes 2020, übersetz von Ruth Altenhofer) erzählte er vom stalinistischen Terror, der Sowjetzeit und den Kontinuitäten bis ins heutige Belarus. Am 24. März erscheint Sasha Filipenkos neuer Roman „Der ehemalige Sohn“ (übersetzt von Ruth Altenhofer) im Diogenes Verlag. Darin beschäftigt er sich mit der jüngeren Geschichte von Belarus.

Sie konzentrieren sich darin auf die Blogger und die Presse. Wie nehmen Sie die Situation in der Kultur- und Kunstszene wahr?

Die werden genauso unter Druck gesetzt. Ein Studienkollege von mir ist bildender Künstler, er war 15 Tage in Haft. In Belarus kann es keine Ausstellungen mehr geben, die Galerien sind fast alle ins Ausland verlegt worden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte jetzt nochmals, „die Repressionen unverzüglich zu beenden“, aber die Verurteilungen und Sanktionen seitens der EU-Staaten bewirken bislang nichts. Was wären geeignete Mittel?

Schwierig. Einerseits erwarten wir von der EU mehr. Andererseits fragen wir uns auch, was sie aktuell tun kann. Europa ist immer „beunruhigt“ und „besorgt“, wir Belarussen machen schon Witze darüber, weil Europa immer „beunruhigt“ und „besorgt“ ist. Derzeit ist man in der EU nicht mehr ganz so beunruhigt, weil die Leute nicht mehr in den Massen auf die Straßen gehen wie zuvor. Die verhängten Wirtschaftssanktionen sind zahnlos: Die belarussischen Firmen, die sanktioniert werden, überschreiben die Unternehmen ihren Kindern und machen lustig weiter. Die EU hätte mehr Präsenz in Belarus zeigen müssen, Repräsentanten und Diplomaten schicken müssen. Was mich prinzipiell ärgert: In Europa ist die Haltung akzeptiert, dass Belarus Einflussgebiet Russlands ist. Damit gibt man zehn Millionen Menschen in die Hände Putins.

Was können Unternehmen tun?

Skoda und Nivea haben es gezeigt, als sie ihren Rückzug als Sponsoren der Eishockey-WM angekündigt und so Druck aufgebaut haben. Lukaschenko kann zwar sein eigenes Volk fertigmachen, aber die großen Geldgeber haben ihn in die Knie gezwungen. Vielen ist Handel hingegen wichtiger als Menschenrechte: Island exportiert für viele Millionen Dollar Fisch und Meeresfrüchte nach Belarus, auf das Geld wollen sie nicht verzichten. Das österreichische Mobilfunkunternehmen A1, das in Belarus etwa 50 Prozent des Markts innehat, dreht das Internet ab, wenn sonntags protestiert wird – „auf behördliche Anordnung“. Und wenn die „Störung“ dann behoben ist, schreiben sie stolz auf Twitter, dass das Netz wieder funktioniert. Wenn in Salzburg oder Wien Proteste wären und A1 würde das Internet abdrehen, würde das sicher nicht unwidersprochen hingenommen, da hätte längst der Vorstand gehen müssen.

Aktuell stehen die Proteste in Russland wieder mehr im Fokus. Schadet das der belarussischen Opposition oder nützt es ihr sogar?

Nur eine Sache: Nennen Sie uns nicht „Opposition“, denn wir sind nicht die Opposition – wir sind die Mehrheit. Zu der Parallelität der Ereignisse: Auf der einen Seite ist es gut, weil die Leute sehen, dass die Regime von Lukaschenko und Putin ähnlich ticken, so wie die Regime Hitler und Mussolini. Andererseits ist die Situation in beiden Ländern nicht vergleichbar. Putin hat immer noch viel mehr Unterstützung im Land. In Belarus ist es das ganze Land, das aufsteht. Und wir haben klare Forderungen: einen neuen Präsidenten sowie die Neuauszählung der Stimmen oder Neuwahlen. Auch das ist anders in Russland.

Sie selbst waren bis vor Kurzem in St. Petersburg. Wie waren Ihre Erfahrungen?

Ich bin in St. Petersburg aus dem Zug gestiegen und gleich aufgehalten worden. Einfach, weil in der Nähe des Bahnhofs gerade Demonstranten festgenommen wurden, die gegen Nawalnys Inhaftierung protestiert haben. Da habe ich aber gemerkt, dass die Reaktion der Polizei auf die Proteste milder ist. In Belarus sind dagegen Polizisten ohne Kennzeichnung und Dienstmarke unterwegs. Das sind Terrorbanden.

Im Januar ist ein Audiomitschnitt geleakt worden, auf dem der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow zu hören sein soll, wie er von Gulags und Folter für Protestierende schwärmt. Gibt es Zweifel an der Echtheit?

In Belarus zweifelt keiner daran, dass das Karpenkow war. Er ist übrigens auch der Mann, der meinen Freund Maxim festgenommen und so zugerichtet hat. Und viele andere. Er wurde nicht nur an seiner Stimme, sondern auch an für ihn typischen Formulierungen erkannt (laut dem regierungskritischen Newsblog charter97.org kamen auch unabhängige Experten zu dem Schluss, dass es Karpenkow war; d. Red.). Karpenkow wird einer der Ersten sein, der vor Gericht gestellt wird, sobald dieses Regime gefallen ist.

Es scheint tatsächlich so, als sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis Lukaschenko fällt. Er wirkt – zum Beispiel in seiner Neujahrsansprache – lächerlich, wie so viele Diktatoren in ihren letzten Tagen.

Ich sehe es auch so, dass er zu einer komischen Figur wird. Aber es ist höchst beunruhigend, wenn eine solche Person immer noch an der Staatsspitze steht und die Befehlsgewalt über die Sicherheitskräfte hat. Natürlich ist das sein Untergang, aber wir wissen nicht, was danach kommt. Es ist ja auch nicht gesagt, dass nicht sein Sohn übernimmt und dasselbe Regime mit derselben Besetzung einfach weiterführt. Wir wollen ganz neu anfangen und das alte System hinter uns lassen. Lukaschenko strebt einen geordneten Rückzug an. Es kann sich also noch Jahre hinziehen.

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