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Sammelband über den Krieg in der UkraineMehr als eine Generation ist verloren

Der Sammelband „Geteilter Horizont“ leistet eine erschütternde Bestandsaufnahme dessen, was der Krieg in der Ukraine – auch geopolitisch – anrichtet.

Versehrte Normalität: Der Kriegsveteran Mykhailo Varvarych und seine Frau bei den Invictus Games in Vancouver Foto: Roman Pilipey/afp

Da ist der Soldat, der Fronturlaub im Hinterland macht und der nicht begreifen kann, wie sich die Menschen dort einfach ihres Lebens freuen können im Angesicht dieses Kriegs. Er verspürt Verachtung für sie. Da ist ein anderer Soldat, ebenfalls im Fronturlaub, der plötzlich zu weinen beginnt, während er Sex mit seiner Ex-Partnerin hat, weil Erinnerungen an ein anderes Leben hochkochen, weil Paranoia ihn plagt. Und da ist das ukrainische Paar, das sich zunächst im Ausland befindet und trotz des Krieges zurückkehrt in die Ukraine, auf die Gefahr hin, dass der Mann eingezogen wird. Die beiden finden es moralisch verwerflich, außer Landes zu sein in diesen Zeiten.

Dies sind einige Episoden aus Jurko Prochaskos Text „Die lebendigen Seelen“, enthalten im Sammelband „Geteilter Horizont. Die Zukunft der Ukraine“. Die Berichte stammen aus Therapiesitzungen, die der ukrainische Schriftsteller und Psychoanalytiker Prochasko mit seinen Ana­ly­san­d:in­nen abgehalten hat. Sie zeigen eindrücklich, dass nicht nur seine Kli­en­t:in­nen eines Tages einen langen Weg zurück in ein „normales“ Leben vor sich haben werden, sondern die gesamte ukrainische Gesellschaft. Der in Lwiw lebende Analytiker konstatiert, „dass dieser Krieg ein totaler ist. (…) Er ist total, denn es gibt keinen Ort mehr in der Seele, wo er nicht wäre. Auch im Schlaf. Es gibt keinen Zoll und keinen Winkel in der Psyche, die intakt geblieben wären, unberührt von der schrecklichen Allgegenwart dieses Krieges.“

Den Sammelband hat Katharina Raabe, bei Suhrkamp zuständig für osteuropäische Themen und Autor:innen, gemeinsam mit der ukrainischen Übersetzerin und Verlegerin Kateryna Mishchenko herausgegeben, er ist der Folgeband der 2023 erschienenen Textsammlung „Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine“. Und wenn die Herausgeberinnen sich gegen Ende selbst fragen, ob sich über die Ukraine nach mehr als dreieinhalb Kriegsjahren „überhaupt etwas Neues sagen lässt“ und wer dies hören wolle, will man zurückgeben, dass ihnen mit diesem Band ein bedeutendes Dokument und Update zum russisch-ukrainischen Krieg und dessen Einfluss auf die Geopolitik gelungen ist. Und dass er hoffentlich viele Le­se­r:in­nen erreicht.

Denn so viele verschiedene Perspektiven auf diesen Krieg wie hier findet man selten gebündelt. Die Schweizer Diplomatin und ehemalige Ukraine-Beauftragte Heidi Tagliavini, die Minsk I und II mitverhandelt hat, erörtert minutiös die aktuelle Situation aus diplomatischer Sicht. Die ukrainische Wissenschaftlerin Darja Zymbaljuk, tätig im Forschungsbereich der Environmental Humanities, zeigt auf, welche Lebewesen und Arten durch den Krieg ausgelöscht zu werden drohen.

Plötzlich stellte sich heraus, dass vor den Augen des respektablen Publikums eine Steinzeitkeule auf den Tisch mit den Habermas-Exzerpten gedonnert war

Der ukrainische Schriftsteller Stanislaw Assejew, der selbst in russischer Folterhaft saß, macht sich Gedanken über den Wert des Wortes, des Diskurses, der Human- und Geisteswissenschaften nach der Zeitenwende – und sieht die Idee der Aufklärung an einem historischen Tiefpunkt. „Dieses Ereignis – die Großinvasion Russlands in die Ukraine – setzte dem modernen Paradigma der kommunikativen Vernunft ein Ende“, schreibt er. „Plötzlich stellte sich heraus, dass vor den Augen des respektablen Publikums eine Steinzeitkeule auf den Tisch mit den Habermas-Exzerpten gedonnert war.“

Auch die belarussische Perspektive (Ingo Petz), der Epochenbruch in den USA (Marci Shore) und das Leben unter Besatzung in Cherson sowie die äußerst mutigen Proteste gegen die Besatzer dort (Yulia Danylevska) werden beleuchtet. Am virulentesten ist vielleicht der Beitrag des Dokumentarfilmers und Autors Yuriy Hrytsyna, der über den Drohnenkrieg schreibt. „Wann wird die erste komplett autonome Drohne entwickelt werden, deren Einsatz auf den Menschen verzichten kann?“, fragt er sich. Er zeigt eine real gewordene Dystopie auf, die immer noch steigerbar ist.

Oft schildern die Au­to­r:in­nen die Begebenheiten sehr plastisch, so erwähnt Nataliya Tchermalykh in ihrem Essay „Kriegskinder“ die Besatzung des Ortes Jahidne, wo alle Bewohner des Dorfes von den russischen Invasoren 27 Tage lang in den viel zu kleinen Keller einer Schule gesperrt wurden. Nach der Befreiung gingen Fotos um die Welt, die die Inschriften und Bilder an den Wänden des Kellergefängnisses zeigen. „In diesen Inschriften an den dunklen Kellerwänden werden die Konturen des bloßen menschlichen Daseins und seiner symbolischen Bedürfnisse erkennbar: das Messen der Zeit, die Namen der Toten – und, ganz unerwartet, die Fülle an Bildern, die von Kindern gemalt wurden“, schreibt Tchermalykh.

„Die Zukunft der Ukraine“ lautet der Untertitel dieses Buchs, es könnte auch „Die Zukunft Europas“ oder „der Welt“ lauten. Es wird deutlich, wie verheerend der Krieg innerhalb der Ukraine ist, wie er verseuchtes und vermintes Land, Bildungslücken, Traumata, gesellschaftliche Konflikte und (mindestens) eine verlorene Generation hinterlassen wird. Aber es wird auch klar, was der Krieg geopolitisch angerichtet hat, wie tot die Vernunft auf internationalem politischen Parkett ist, wie wenig rationale Diskurse und Wahrheit aktuell zählen. Dieses Buch leistet also eine tiefe, aber nicht sonderlich erbauliche Bestandsaufnahme; insofern weiß man es zu schätzen, dass gegen Ende immerhin Friedrich Dürrenmatt als Hoffnungsmacher herbeizitiert wird. „Man darf nie aufhören, sich die Welt vorzustellen, wie sie am vernünftigsten wäre“, hat der einmal gesagt.

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