Sammelband über Cancel Culture: Die Argumente der anderen
Der Hanser Verlag versammelt Beiträge zum Thema Canceln. Die aktuelle Anthologie bemüht sich redlich, den Kulturkampf zu verlassen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Canceln regelmäßig sein Gegenteil bewirkt. Der öffentlichkeitswirksame Versuch, ein Buch, einen Film oder den Auftritt einer Person zu verhindern, führt zuverlässig zu einer Steigerung von Prominenz, zu einem Mehr an Debattenbeiträgen, Veranstaltungen und Büchern.
Der Hanser Verlag enthebt den Reizbegriff mit seiner Anthologie „Canceln – Ein notwendiger Streit“ nun dem Nahkampf. Der Band möchte erkennbar dazu beitragen, die erhitzten Gemüter zu beruhigen, oder traut wenigstens den Anhängern eines Lagers die Aufgabe zu, über mehrere Seiten Argumente der Gegenseite zu würdigen. Den Anfang macht Zeit-Redakteur Ijoma Mangold, indem er die Fronten klärt.
Mangold ist bekannt als gut gelaunter Intellektueller, den seine Lust am Widerspruch im tendenziell linksliberalen Umfeld des Feuilletons zum Konservatismus neigen lässt. Ihn störten vor allem die ungleichen Voraussetzungen in dem Konflikt. Lange behaupteten identitätspolitisch engagierte Linke, es gäbe gar keine Cancel Culture, und die so verunglimpften Einlassungen wären nichts anderes als zivilgesellschaftliches Engagement.
Damit ist nun Schluss, da auch die Akteure in diesem Kulturkampf benannt sind. Wenn unliebsame Personen als Rechte, als TERFs oder als alte weiße Männer niedergeschrien werden, müssen die cancelnden Personen nun auch damit leben, als „Woke“ dazustehen. Mit der Konstatierung dieser „Waffengleichheit“ verabschiedet sich Mangold auch schon aus der Debatte und räumt sogar ein: „Vielleicht haben am Ende die Vertreter der Identitätspolitik mit ihren Positionen und Ansichten recht, wer kann das schon wissen, das werden wir in zwanzig Jahren im Rückblick klarer sehen.“
Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Jo Lendle, Georg M. Oswald (Hg.): „Canceln – ein notwendiger Streit“. Hanser, München 2023. 224 Seiten, 22 Euro
Die politische Öffentlichkeit wäre demnach also wieder funktionsfähig, da nun ein Gleichgewicht zwischen antagonistischen Kräften hergestellt wäre. Diese Analyse setzt jedoch voraus, dass die Verschärfung des Umgangs miteinander vor allem in den sozialen Netzwerken keinen größeren Schaden verursacht, mithin, dass sich am Ende alle Beteiligten doch noch Habermas' „zwanglosem Zwang des besseren Arguments“ beugen.
Wie im Kampf gegen Barbaren
Der Philosoph Konrad Paul Liessmann würde hier wohl widersprechen, er sieht die Kultur im Ganzen in Gefahr, und zwar durch Ignoranz. Seine Verteidigung aufgrund rassistisch verstandener Textstellen inkriminierter Denkerinnen und Denker wie Immanuel Kant, Ernst Moritz Arndt oder Hannah Arendt gipfelt im Gegenvorwurf, es ginge den Kritikern lediglich darum, sich an der eigenen Gewalt über den Diskurs zu berauschen.
„Cancel Culture erweist sich nur allzu oft als Ressentiment im hehren Gewande der Moral, selbstgefällig und denkfaul, aber machtbewusst.“ Überspitzt gesagt, schießt Liessmann hier gegen eine Horde Barbaren, die nicht fähig sind, bestimmte Sätze in Bezug auf ein Gesamtwerk einzuordnen.
Doch steckt wirklich Denkfaulheit dahinter? Näher liegt, dass Liessmann einem Missverständnis aufsitzt, während die Kritiker ihre Empörung durchaus bewusst und strategisch einsetzen. Wenn Studenten sich weigern, Kant zu lesen, weil sie auf Twitter Screenshots rassistischer Passagen aus dessen Werk entdeckt haben, dann verstehen sie den Königsberger eben nicht als Philosophen und Wegbereiter der Moderne, sondern als eine sehr konkrete politische Figur.
Und natürlich ist diese Figur nicht auf lautere Weise mit dem Kant des Konrad Paul Liessmann in Einklang zu bringen. Diese Inkongruenz überzubewerten, geht am Thema vorbei. Sie ist eben einer Politisierung geschuldet, die vor ehedem gut geschützten Institutionen wie der akademischen Philosophie nicht Halt macht.
Das Silberbesteck des Denkens
Vom intellektuellen Standpunkt aus betrachtet nicht weniger enttäuschend als absichtsvoll verkürzte Lektüren ist im Übrigen die aggressive Vehemenz hochgebildeter Cancel-Kritiker wie Liessmann, sofern sie eben nur die naheliegendsten und schlechtesten, das heißt persönliche Motive unterstellen. Selbst wenn diese in vielen Fällen zutreffen sollten, gälte es doch noch etwas mehr zu entdecken als egozentrische Querulanz.
Treten junge Identitätspolitiker mit unredlichen Mitteln auf den Plan, dann womöglich auch deshalb, weil sie genau wissen, dass ihre Mütter und Väter mit dem blitzblank polierten Silberbesteck des Denkens (Universalismus, Konstruktivismus, Postmoderne Theorie) nicht gegen Rassismus, Kolonialismus oder Sexismus ankamen.
Ob der Furor jedoch tatsächlich zielführend ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Johannes Schneider, ebenfalls Zeit-Redakteur, bringt seine Feldforschung in Bierzelten in die Debatte ein. Dort bemerkte er, dass die Skandalisierung des misogynen Partyhits „Layla“ das Verhalten der versammelten Festgemeinden stark verändert hatte. Zuvor sei das Lied durchaus ironisch gesungen worden, „mit einem feinen Bewusstsein dafür, dass man hier die unterste Schublade aufzieht, auch um sich dabei als lächerlich verrenkte Figur selbst beobachten zu können“.
Danach sei „Layla“ zur Freiheitshymne verkommen. „Wie laut es dann in den Zelten wurde, jedes der unzähligen Male, die das vermeintlich verbotene Lied erklang, das hatte schon etwas Unheimliches, weil Aufgehetztes.“ Man erkennt hier, wie leicht der Ruf nach Anstand ins gegrölte Gegenteil umschlägt.
Folgen aggressiver Rhetorik
Die Ansprache ist dabei oft entscheidender als die Argumente. Es ist nicht nur Gerede, dass sich viele Menschen, die sich ein Leben lang als liberal oder sogar links verstanden, rasch bevormundet und missverstanden fühlen, wenn sie die Maßgaben einer zeitgeschichtlich jungen Identitätspolitik verfehlen. Anstatt in einen Dialog zu treten, riskieren Aktivisten, diese Milieus mit ihrer aggressiven Rhetorik zu verschrecken.
Einige Beiträge des Bands versuchen beide Lager wieder füreinander zu interessieren. So legt Asal Dardan mit unbestreitbarem Interesse an Michael Ende dar, warum dessen Geschichten von Jim Knopf Kindern heute keine zeitgemäßen Botschaften mehr vermitteln. Die in derlei Fragen wegen ihrer humorvollen Besonnenheit ohnehin unverzichtbare Mithu Sanyal verteidigt ihre Lieblingsautorin Enid Blyton dagegen trotz aller politischen Anachronismen in deren Werk.
Und die Wissenschaftsjournalistin Anna-Lena Scholz gibt sogar Hinweise, wie der Umgang mit Cancel Culture weitergehen könnte. Sie rekapituliert den Skandal um Dieter Nuhr und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Diese hatte den Komiker als Protagonisten einer Marketing-Kampagne engagiert, sein Statement aber nach einem Shitstorm gleich wieder gelöscht.
Schema des Kräftegleichgewichts
Scholz kritisiert die vorschnelle Reaktion der DFG und ihre unprofessionelle Kommunikation. Sie erkennt in dem Fall jedoch auch große gesellschaftliche Wertschätzung für die Wissenschaft und eine Bereitschaft, sich über ihre Bedingungen und Ziele auszutauschen. Vor allem aber betont sie, dass das Canceln lediglich eine Option für bedrängte Verlage, Veranstalter oder Institutionen ist. „Wo Cancel Culture diagnostiziert wird, artikuliert sich eine Angst vor dieser Möglichkeit.“
Das Schema eines Kräftegleichgewichts zweier Lager kann damit ergänzt werden, denn zum Canceln gehören immer drei. Institutionen sind nicht einfach die Spielfelder, auf denen Linke und Konservative um Deutungshoheit konkurrieren. Sie können selbst aktiv und ihren eigenen Maßstäben folgend reagieren.
Cancel Culture könnte für sie sogar eine Chance sein, die eigenen Werte und Maximen klar zu definieren, um sie im Falle des Falles auch in der Öffentlichkeit offensiv zu vertreten. Mit etwas Optimismus wäre es somit vorstellbar, dass Canceln in der nahen Zukunft ein übliches Instrument der politischen Auseinandersetzung ist, das gezielt Aufmerksamkeit bündelt, jedoch ohne dass dabei eine Partei die Nerven zu verlieren bräuchte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern