Samischer Maler Anders Sunna: Von Groteske zu Groteske
Künstler Anders Sunna löste in Schweden einen Streit um Identitätspolitik und Wirtschaftsinteressen aus, der sogar die Kunstfreiheit infrage stellt.
Dunkle Gestalten im Schattenriss vor dramatischen Eislandschaften. Gesichtslose Entscheider am Konferenztisch. Ein Mann in Tarnhose lehnt an einem Maschendrahtzaun. Urplötzlich wurde die großformatige Malerei von Anders Sunna berühmt.
Es geschah für den Künstler selbst überraschend 2022 auf der Biennale in Venedig, wo Sunna einer von drei sámischen Künstler:innen war, denen im Nordischen Pavillon die Bühne überlassen wurde. Der Fokus auf Vertreter:innen der einzigen indigenen Bevölkerungsgruppe Europas wurde pointiert durch die hochsymbolische Geste, das Gebäude kurzerhand in „Sámi Pavilion“ umzubenennen.
So wurde der Blick auf die Situation der Sámis gelenkt, die seit Jahrtausenden im Norden Skandinaviens und der zu Russland gehörenden Halbinsel Kola ansässig sind und meist von Rentierhaltung leben.
Öffentlichkeitswirksame Kunst
Tatsächlich zeigte dies, wie öffentlichkeitswirksam sich zeitgenössische Kunst in politische Prozesse einmischen kann. Seit dem Mittelalter mussten sich die Sámi gegen unterschiedliche Formen der kulturellen und geografischen Kolonisierung wehren.
Genau genommen müssen sie es immer noch. Sunnas sechsteiliger, mannshoher Bilderzyklus „Illegal Spirits of Sápmi“, heute im Moderna Museet Stockholm, stellt dar, dass Einschränkungen angestammter Lebensweisen der Sámi durch (regional)politische Entscheidungen weiterhin gegeben sind.
Häufig steht hinter solchen Strategien globales Wirtschaftsinteresse. Im Fall der Sámi Nordschwedens etwa weckt das großflächige Weideland der Rentiere Begehrlichkeiten auf dort lagernde Bodenschätze wie Seltene Erden.
Gewohnheitsrecht Rentierhaltung
Sunna erzählt in seinem Werk mit ausgefeilten künstlerischen Mitteln von dem über 50 Jahre währenden Streit um dieses uralte Gewohnheitsrecht der Rentierhaltung. Seiner Familie war es in den 1970ern abgesprochen worden. Zu diesen, durchaus auf andere Weltregionen übertragbaren Interessenkonflikten zwischen indigenen Völkern und ihren Kolonisatoren hat sich kürzlich ein heftiger Streit um Identitätspolitik, den Umgang von Minderheiten untereinander und nicht zuletzt um die Kunstfreiheit entzündet.
Sunnas Malerei ruft starke Reaktionen hervor. Ihre vitale Bildsprache findet ihre Dynamik in der Tradition von Streetart, Graffiti und Stencil Art. Das wirkt akut zeitgenössisch. Und geht doch weit über die politische Protestgeste hinaus, indem Sunna seine Kunst verortet.
Dass Sunna die Arbeiten des Neoimpressionisten Peter Doig schätzt, ist nicht zu übersehen; Schnee- und Waldlandschaften mit tiefer Horizontlinie erinnern an Caspar David Friedrich, und die Klarheit eines eisblauen, subarktischen Sees verströmt die Frische des Schweizer Jugendstilmalers Ferdinand Hodler.

Durch Skelette verunreinigter See
Erst bei genauem Hinschauen fällt auf, dass etwa der See durch Massen von Rentierskeletten verunreinigt ist oder dass die nordische Waldidylle in Wirklichkeit keine ist, sondern eine durch den Abbau von Eisenerz zerstörte Landschaft. Die Kultur- und Gesellschaftskritik des Künstlers ist so subtil wie direkt. Sie verführt ihr Publikum durch Schönheit und bereitet ihm dann im Moment des Erkennens einen umso größeren Schock.
„Malerei ist wie die Jagd“, hat Sunna einmal gesagt: Man locke die Beute an und wenn sie nah genug sei, schlage man zu. Genauso ist es auch kein Zufall, dass die Collagen der mit expressivem Pinselstrich übermalten Porträtfotos seiner Familie unter die Haut gehen: Diese offenen, freundlichen Gesichter derer, die im realen Leben über Jahrzehnte durch Morddrohungen, durch üble Nachrede oder Brandstiftung geschädigt wurden.
Man sieht auch pastos gemalte Figuren von Lokalpolitikern in Kampfuniform mit roten Armbinden, die Gesichter zu Fratzen verzerrt. Auch wenn diese Malerei klar im sámischen Umfeld verortet ist, übt sie generell Kritik an Machtverhältnissen. In solchen Momenten findet Sunnas Malerei den direkten Anschluss an die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Polit- und Halbweltgrostesken von George Grosz, Otto Dix und Max Beckmann.
Problematischer Umgang
Dass diese Kunst exemplarisch steht für komplexe gesellschaftliche Dynamiken in vielen Ländern, in denen der problematische Umgang mit Minderheiten gerade verhandelt wird, zeigte Sunnas Einzelausstellung „Meän Meän Sápmelaš“ („Unser Unser Sápmi“). Sie ist im subarktischen Luleå zu sehen, Hauptstadt der schwedischen Provinz Norrbotten.
Sie ist als Ort auch symbolisch aufgeladen, weil die Familie Sunna hier fünf Jahrzehnte lang vor Gericht versuchte, ihre Konzession zur Rentierhaltung einzuklagen. Wo jedoch Schwedens Interessen liegen, wird bereits an Luleås Flughafen klar: Imageplakate des staatlichen Bergbauunternehmens LKAB werben euphemistisch mit dem Slogan, im Dienst des Fortschritts Grenzen zu verschieben, Berge und selbst Städte zu versetzen. Letzteres ist eine Anspielung auf die Umsiedlung der Stadt Kiruna 2023, deren Stabilität durch das System der unter ihr liegenden Minenschächte gefährdet war.
All dies sind Aktivitäten, die die Gebiete der indigenen Bevölkerung verkleinern, ihre Lebensweisen beschneiden. Das führt zu Konflikten. Und so muss man sich selbst vor dem Besuch von Sunnas Ausstellung die Frage stellen, auf welcher Seite man steht: Begrüßt man den Abbau Seltener Erden in Europa, um für die Batterien von Handys und Elektroautos nicht auf China angewiesen zu sein? Oder stellt man sich hinter den Schutz der Minderheiten?
Schwelender Konflikt
In Sunnas Schau in Luleå kam es nun zum Eklat. Denn seine provokative Kunst spricht einen seit Langem schwelenden Konflikt innerhalb unterschiedlicher Sámigruppen und den Tornedalingar an, einer finnischstämmigen Minderheit in der Region. Es geht um gegenseitige Vorwürfe der Kooperation mit der schwedischen Nationalregierung, um die Beschneidung der Rechte einzelner Sámigruppen und sicher auch um Neid, ob der Aufmerksamkeit, die Sunna nun als erfolgreicher Künstler für seine Sache erhält.
Sprecherin der Tornedalingar-Gruppe ist die medial vernetzte Eva Kvist. Sie stellt Sunna auf einem seiner Bilder gut erkennbar dar. Arglos grinsend in einer Reihe ihrer historischen Vorläufer, dazu der schwedische Kolonisatoren-König Gustav I (1496–1560). Kvist sitzt auf dem Hals eines liegenden Rentiers. Hintergrund dieser Darstellung ist ihr Engagement für eine Gesetzesänderung, die es ihrer Minderheit erlauben soll, Rentiere zu halten – nicht nomadisch wie die Sámis, sondern als Stallvieh.
Kvists Pressuregroup empört sich nun in den sozialen Medien über Sunnas Bild, unterstellt dem Künstler Häme und Verleumdung, „Hass zu säen zwischen den Minderheiten“, weil „er sich ins Rampenlicht stellen“ wolle. Die Polizei solle einschreiten, es müsse rechtliche Konsequenzen geben, das Bild abgehangen werden. Tatsächlich stand kurz darauf die Polizei in Sunnas Ausstellung, das Gemälde aber blieb hängen.
Aus dem Ruder gelaufener Streit
Der Eklat zeigt, wie Identitätspolitik aus dem Ruder laufen kann. Wenn sich später zugewanderte ethnische Minderheiten gegen ältere, indigene in Stellung bringen, um sich einen guten Platz im Aufmerksamkeits-, Macht- und Geltungsgefüge des Nationalstaates zu sichern. In solch einem Kompetenzgerangel steht schnell die Freiheit der Kunst auf dem Spiel.
Leider scheiterte der kluge Vorschlag der Ausstellungskuratorin, die Streitenden an einen Tisch zu bringen, an den Bedenken der Provinzregierung. Dabei sind von Identitätsvorgaben verunsicherte Behörden das Letzte, was eine derart aufgeputschte Situation weiterbringt.
Anders Sunna indes macht weiter. Während die umstrittene Ausstellung gerade zu Ende ging, kündigt er bereits eine neue Schau in Luleås Galerie Lindberg an: „Coffee. Fight. Repeat“. Da ist er wieder, der Galgenhumor des Künstlers.
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