Saisonfinale der Opern in Berlin: Was alles Oper ist
Drei Premieren und ein Volksfest: Mit Rossini, Verdi und Schostakowitsch, mit Schnulzen und Virtuosität beenden die drei Berliner Opern die Saison.
Am Ende ein Volksfest, umsonst und draußen waren Anna Netrebko und Plácido Domingo mit Daniel Barenboim und seiner Staatskapelle gut zu hören und auch ein wenig zu sehen auf dem Bebelplatz in Berlin Mitte, wo der Riesenbildschirm aufgebaut war. Menschen jeder Herkunft, jeden Alters und Geschlechts füllten den Platz, die Straße „Unter den Linden“ war für den Autoverkehr gesperrt. Es gab kein Gedränge, entspannte Freude lag in den Gesichtern.
Auch das kann Oper sein, die sprichwörtlich Große sogar, wie beim Fußball zum Beispiel. Unter dem Namen „Staatsoper für alle“ war die Metapher am Sonntag wörtlich zum Ereignis geworden, bezahlt von einem Autohersteller, der klug genug war, auf allzu viel Eigenwerbung zu verzichten.
Denn das Volksfest draußen war nur möglich, weil auch drinnen im Saal kompromisslos und ohne jedes Schielen nach Popularität und Kommerz die ganz große Oper gespielt wurde. Harry Kupfer, der alte Theatermann aus dem Osten, hat mit souverän dosierten Mitteln Giuseppe Verdis Version des blutigen Dramas „The Tragedy of MacBeth“ von William Shakespeare in die Gegenwart geholt, damit es dort, mitten unter den alltäglichen Fernsehbildern, seine düstere Gewalt entfalten kann.
Es herrscht Krieg, Shakespeares Hexen sind Frauen, die auf einer zerbombten Straße die herumliegenden Leichen fleddern. Rauchwolken und Feuerstürme verschließen den Horizont, zwei Männer in den Galauniformen irgend einer Militärjunta treten von der Seite auf, schlecht gelaunt herrschen sie die Frauen an, was sie hier wollen. Die Kriegerwitwen haben sich vor ihnen in den Staub geworfen haben und stimmen die Preislieder an, die ihnen Verdi wohlklingend böse gegeben hat „Heil dir, MacBeth, König von Schottland!“
Jetzt ist sie nur noch Lady MacBeth
Hans Schavernoch, Kupfers ständiger Bühnenbildner, hat eine wuchtige Stahlkonstruktion entworfen, in der sich die Todesstraße danach nach oben schiebt und darunter den Innenraum eines modernen Designerpalastes zeigt. Am Horizont ist jetzt das Bild einer mittelalterlichen Burgruine zu sehen, aufgenommen aus der Perspektive knipsender Touristen. Der Clan ist immer noch derselbe. Zu Hause sind die Marmorwände herrschaftlich schwarz, der Eingang ist ein schwenkbares Edelstahlgerippe. Davor steht ein weißes Sofa. Anna Netrebko liegt darauf in schwarzer Abendrobe und beginnt zu singen.
In den letzten Jahren gab es peinliche Auftritte des Superstars zu beklagen, aber jetzt ist Anna Netrebko nur noch diese Lady MacBeth, für deren Abgrund der Seele Verdi seine eigenen Stilmittel zerbrach. Mühelos folgt ihm Netrebko in jede Schärfe der Melodieführung hinein, mit stets kontrollierter, dem verlangten Ausdruck angepasster Stimme auch noch in den tiefsten Lagen und extremsten Höhen.
Plácido Domingo hat es daneben ein wenig schwer. Er ist inzwischen 77 Jahre alt. Selbstbewusst abweichend von Verdi und Shakespeare ist sein MacBeth ein alter, ein wenig müder Mann, der nur seiner jungen Ehefrau zu Gefallen sein möchte. Seine eigene Machtgier klingt so gedämpft wie seine Stimme, die jedoch ihrerseits ein Wunder eigener Art ist. Noch immer klingt die Strahlkraft des ehemaligen großen Tenors nach und taucht gerade diese Rolle in den brüchigen Glanz eines Wahnsinnigen.
Das lässt sich nicht ins Museum stellen
Die normale Wärme des Baritons, die Domingo fehlt, wird nicht gebraucht, daher nicht vermisst, und ohnehin können sich alle auf ihren Freund Daniel Barenboim am Dirigentenpult verlassen. Er dirigiert Verdi mit großer Ruhe und Einsicht in die Meisterschaft dieses Werkes. Nur der Chor hat gelegentlich Mühe, seine tragende Rolle mit der nötigen Genauigkeit zu erfüllen, aber das Orchester gleicht die Unsicherheiten aus mit klarer und wohlklingender Transparenz.
Ja, das ist die große Oper. Sie lässt sich nicht ins Museum stellen. Sie muss immer und immer wieder auf diese Spitze getrieben werden, auf der die höchste Kunst ein Sinnenfest für das ganze Volk ist.
Aber manchmal spielen die Komponisten nicht mit. Das Berliner Finale begann am Freitag mit dem spektakulären Fall einer Oper, die sich selbst in die Luft sprengt. Das Stück heißt „Il viaggo a Reims“. Gioaccino Rossini hat es 1825 geschrieben, um damit an der Krönung des französischen Königs Karl X. Geld zu verdienen. Es endet mit einer langen Sopranarie, die den lieben Gott darum bittet, diese „Lilie auf grünem Stil“ zu erleuchten.
Erfolgsnummern zur Krönung
Nur noch beten hilft gegen die Restauration, meint Rossini. Sein Stück wurde zweimal gespielt und gefiel der Pariser Oberklasse im Krönungsrausch recht gut. Rossini kassierte sein Gehalt und legte die Noten in die Schublade. Danach dauerte es über 150 Jahre, bis sie 1977 von einem Musikhistoriker wieder gefunden wurden. 1984 kam es unter Claudio Abbados Leitung zur nunmehr dritten Aufführung des Werkes, das alles untergräbt, was man sich unter einer Oper vorstellen mag.
Eine Handlung gibt es nicht, aber 16 überwiegend männliche Solostimmen, die den gesamten Werkzeugkasten durch singen müssen, aus dem Rossini seine Erfolgsnummern gezimmert hat. Endlose Tonleitern, aberwitzige Sprünge und peitschendes Tempo treiben ein Figurenkabinett an, das in allen Stereotypen der Bühnendramatik Lieben, Streiten, Jammern und Jubeln muss – nur dass es diesmal nie einen Sinn ergibt und die Musik auch schon wieder wo anders ist.
An der Deutschen Oper lässt der Regisseur Jan Bosse die absurde Mechanik der Koloraturen mit zappelnd verrenkten, übergroßen Gesten imitieren. Das gibt den Sängern und Sängerinnen, die allesamt aus dem Ensemble stammen, die Chance, den musikalischen Overdrive fröhlich zu genießen, obwohl sie manchmal von der dafür erforderlichen Virtuosität überfordert sind.
Fehlgriff Krankensaal
Schade ist nur, dass Bosse glaubte, diese radikale Zerstörung des Sinns in einen allseits verspiegelten Krankensaal verlegen zu müssen. Aber Kranke sind nicht gemeint. Für Rossini sind es dieselben, viel zu gesunden Personen des gesellschaftlichen Lebens, an denen er in allen seinen Werken seine an der Menschlichkeit verzweifelnde Wut auslässt. Hier haben sie sich im Hotel versammelt, um zur Krönung ihres reaktionären Königs nach Reims zu reisen. Nur fährt die Kutsche nicht, weil es keine Pferde mehr gibt: auch das ist große Oper.
Dass sich in diesem Geniestreich sogar die Avantgarde des nächsten Jahrhunderts zu Wort meldet, war dann am Samstag in der Komischen Oper zu sehen. Barry Kosky hat „Die Nase“ von Dmitri Schostakowitsch so wörtlich wie möglich inszeniert. Damit Günter Papendell als Kollegienassor Kowaljow aus Gogols Erzählung wirklich seine Nase verlieren kann, müssen sich alle anderen Personen ein extra großes Gummiorgan ins Gesicht setzen. Aus dieser szenischen Drastik entsteht eine ebenso präzise Orgie surrealer und dadaistischer Miniaturen von etwa 30 Charakteren aller Gesellschaftsklassen.
Wilde Collage aus Schnulzen und Dissonanzen
Eng gedrängt tummeln sie sich auf der weißen Decke eines runden Tisches, das Orchester spielt dazu lustvoll Schostakowitschs wilde Kollage aus Schnulzen und Dissonanzen, furzendes Kontrafagott und singende Säge inklusive.
Den Bebelplatz kriegt man damit wohl nicht voll. Koskys Bühnenbildner Klaus Grünberg hat das Bühnenportal sogar zu einer Kameralinse verengt. Ganz kleine Oper also, aber im Brennglas konzentriert die radikale Moderne von 1930, die immer noch ein Feuerwerk volkstümlicher Sinnlichkeit zündet. Also doch groß.
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