Sänger von The Jesus & Mary Chain: „Entweder Trauma oder Aufruhr“
Die schottischen Indierock-Ikonen The Jesus & Mary Chain veröffentlichen ihr neues Album „Glasgow Eyes“. Sänger Jim Reid über Schottland und Saalschlachten.
Jim Reid ist überrumpelt. Der Sänger von The Jesus & Mary Chain hat nur mit einem Telefonanruf gerechnet, aber jetzt befindet er sich in einem Videocall. Doch das Wohnzimmer in Devon ist aufgeräumt. An der Wand hängt dekorativ eine akustische Jazzgitarre. Reid ist professionell unrasiert und überraschend umgänglich.
taz: Mr Reid, „Glasgow Eyes“ lautet der Titel des neuen Albums von The Jesus & Mary Chain. Dabei wohnen Sie und Ihr Bruder seit Jahrzehnten nicht mehr in Schottland. Was bedeutet Glasgow noch für Sie?
Jim Reid: Ich lebe seit 1985 nicht mehr in Schottland. Aber es ist der Ort, an dem ich die ersten 20 Jahre meines Lebens verbracht habe, und diesen Ort werde ich nicht mehr los. Er bestimmt meine Persönlichkeit, wer ich bin. Ich werde mich immer als Schotte fühlen, aber da schwingt keine Wertung, kein Stolz mit. Ich hätte auch sonst wo aufwachsen können.
Kreischendes Feedback, Sixties-Melodien, steinzeitliches Schlagzeug: Als The Jesus & Mary Chain Mitte der 1980er auftauchten, gab es nichts Vergleichbares. Wie wurde das aufgenommen in Glasgow, einer Stadt, die zuvor für Simple Minds und den cleveren Pop des Postcard-Labels bekannt war?
Wir wurden überhaupt nicht aufgenommen. Unser erstes Konzert spielten wir in London, weil in Glasgow niemand etwas anfangen konnte mit ein paar jungen, struppigen Punks und ihren kreischenden Gitarren. Seelenlose Soulmusik dominierte damals die Stadt. Wir schickten Tapes an alle Clubs in Glasgow, an jeden, der Konzerte organisierte: Niemand wollte etwas mit uns zu tun haben. Uns wurde sehr schnell klar: Wir müssen raus aus Glasgow und raus aus Schottland, wenn diese Band etwas werden soll.
Und trotzdem landeten Sie in London auf dem Label eines Schotten, dem von Alan McGee gegründeten Label Creation Records.
Reiner Zufall. Auf der Rückseite eines der Demotapes, die wir in Glasgow verteilten, waren ein paar Songs von Syd Barrett. Der Veranstalter hasste unsere Seite des Tapes, aber er gab es weiter an Bobby Gillespie, weil der Barrett mochte. Und als Bobby das Tape umdrehte und unsere Songs hörte, war er begeistert. Er wurde unser Schlagzeuger und er kannte Alan McGee, der damals in London einen Club für Livemusik betrieb. Es war quasi schottische Fluchthilfe, unterstützt von Syd Barrett.
Was war so schlimm in Glasgow?
Die Szene damals schaute nach innen. Gerade in Glasgow, aber im Grunde in ganz Großbritannien waren die allermeisten Indie-Bands zufrieden damit, im Hinterzimmer eines Pubs für 20 Freunde zu spielen. Aber wir wollten in großen Läden spielen, wir wollten reisen, wir wollten der Welt unsere Musik vorspielen. Natürlich mochten wir Velvet Underground und die Stooges, aber auch die Beatles und die Beach Boys. Wir wollten Popstars werden, darum ging es.
Anfangs gossen Jesus & Mary Chain süßen Bubblegum-Pop in ein Schwefelbad aus kreischendem Feedback. Die frühen Auftritte der 1984 in einem Glasgower Vorort gegründeten Band um die Brüder William (geboren 1958, Gitarre) und Jim Reid (geboren 1961, Gesang) und den späteren Primal-Scream-Sänger Bobby Gillespie am Schlagzeug endeten nicht selten nach 20 Minuten in Randale und Saalzerstörung. Nach einer achtjährigen Pause, bedingt durch geschwisterliche Hahnenkämpfe, reaktivieren die Reids die Band 2007 wieder. Es folgen erfolgreiche Touren und weitere Alben.
Das jüngste Werk, „Glasgow Eyes“ (Fuzz Club/Cooking Vinyl/Rough Trade), erscheint am 22. März 2024 und erweitert die inzwischen umgänglicheren Gitarren um viel Elektronik über Jim Reids patentiert gelangweiltem Gesang.
Die Band kommt im April auf Tour: 9. 4. Hamburg, Markthalle; 11. 4. Berlin, Huxley’s; 12. 4. Köln, Live Music Hall; 20. 4. Heidelberg, halle02
The Jesus & Mary Chain sind vermutlich die einzige Band, von der es einen Bootleg mit dem Kreischen, Schreien und Schimpfen des aufgebrachten Publikums nach einem abgebrochenen Auftritt gibt. Machte es Sie auch stolz, derart extreme Publikumsreaktion ausgelöst zu haben?
Das war Teil des Plans. Anfangs kamen Leute mehr zufällig als absichtlich zu unseren Konzerten. Schließlich kannte uns niemand. Unser Ziel war, diese Leute entweder traumatisiert nach Hause zu schicken, oder in umstürzlerischer Aufregung. Wir wollten extreme Reaktionen, weil wir auf der Bühne extrem waren. Es schmeichelte uns, dass dann jemand diesen Aufruhr aufgenommen und als Single gepresst hat, im Grunde war das genial.
Finden Sie es auch ein bisschen komisch, dass die erste Video-Auskoppelung Ihres neuen Albums „Jamcod“ mit einer Trigger-Warnung beginnt, während Ihre frühen Konzerte und Alben Menschen völlig unvorbereitet mit weit extremerer Musik konfrontiert haben.
So ist das heute: Sobald flackernde Lichteffekte auftauchen, müssen Menschen gewarnt werden, für den Fall, dass sie etwa an Epilepsie leiden.
Tumulte bei Ihren Konzerten spiegelten sich innerhalb der Band in ständigen Querelen zwischen Ihnen und Ihrem Bruder wider. Solche Geschwisterstreitereien, wie sie von den Kinks bis zu Oasis zahlreich vorkamen, werden oft als kreativer Motor romantisiert. Wie sehen Sie das?
William und ich streiten seit Tag eins, aber der Zank hat sich über die Jahre entwickelt. Als wir Mitte der 1980er Jahre das Album „Psychocandy“ aufnahmen, stritten wir allein über die Musik. Ist die Gitarre laut genug? Sollte es mehr Feedback hier, oder noch mehr dort geben? Es war weniger ein Streit als eine sehr laut geführte Diskussion zwischen Brüdern. Als wir Ende der 1990er „Munky“ aufnahmen, stritten wir über alles, jede Kleinigkeit. Es hatte nichts Kreatives mehr, es lähmte die Band. Es ging nicht weiter und wir lösten uns auf.
Wären die Songs anders ohne diesen Bruderzwist?
Die Songs sind schon fertig, wenn wir ins Studio kommen. William komponiert allein für sich und ich tue das auch. Der Streit fügt also nichts hinzu. Die Romantisierung einer Auseinandersetzung als kreativer Katalysator ist genauso großer Unsinn wie Alkohol oder andere Drogen. Trotzdem wird diese Ausrede ständig benutzt: 'Oh, ich kann nur schöpferisch sein, wenn ich mir mächtig was reingelötet hab. Das ist Bullshit.
Der Legende nach warfen Sie und ihr Bruder eine Münze, als es darum ging, wer der Sänger wird. Was für eine Band wären The Jesus & Mary Chain heute, wenn die Münze auf der anderen Seite gelandet wäre?
Hm, schwierig … Ich glaube, William hätte mich als Sänger gut ersetzen können, aber ich hätte ihn niemals als Gitarristen ersetzt. Es wäre also eine schlechtere Band. Davon abgesehen habe ich immer auch Gitarre gespielt, oft auch Bass, und William singt auf dem neuen Album öfter als ich. Fay Fife, Sängerin der Glasgower Punkband Rezillos, singt mit mir im Auftaktsong „Venal Joy“ und meine Partnerin Rachel Conte singt bei „Girl 71“.
Der Einfluss von Bands wie Velvet Underground war bald Teil der Rezeption Ihrer Band. Man hat weniger darüber gelesen, dass ein Stück wie „Just Like Honey“ nah an „Be My Baby“ von der Sixties-Girlband The Ronettes ist. Enttäuscht Sie das?
Ich schwöre, dass wir uns nicht bewusst an diesem Ronettes Stück orientierten, auch wenn das Schlagzeug tatsächlich ähnlich klingt. Aber es stimmt: Wir waren und sind große Fans von Girlgroups der Sixties. Unser Musikgeschmack ist relativ konstant. Die Glamrock-Alben von Slade und Sweet, die ich mit zwölf gekauft habe, bedeuten mir immer noch etwas.
Es heißt, Sie und Ihr Bruder hätten Anfang der 80er eine lange Zeit zu Hause am Konzept der perfekten Band gefeilt. Wie muss man sich das vorstellen?
Nun, wir mochten beide Sixties-Pop, die großen Bands dieser Zeit. Aber wir mochten auch obskuren Noise und elektronische Bands aus Deutschland. Unsere Fragestellung lautete: Warum spielt niemand Musik, die klingt, als würden die Shangri Las mit den Einstürzenden Neubauten als Backingband spielen? Wäre das nicht grandios? Verdammt, wenn es niemand macht, dann machen wirs eben.
Für August ist Ihre Biografie angekündigt: „Never Under-stood“. Gibt es noch so viel Unverstandenes?
Zumindest wird das Buch mit ein paar Mythen aufräumen. Der Journalist Ben Thompson kam mit der Idee auf uns zu. William und ich erzählen ihm mehr oder weniger unsere Geschichte. Ein paar Sachen fehlen, ein paar Sachen hätten besser gefehlt. Manchmal beschreiben William und ich dieselben Dinge aus unserer jeweiligen Perspektive und sie klingen völlig verschieden. Die Leserinnen und Leser müssen sich dann entscheiden, welcher Version sie glauben – oder ob sie keiner glauben.
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