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Sachbuch „Hillbilly-Elegie“Die letzte Zuflucht der Verlierer

J. D. Vance erzählt vom Abstieg weißer Arbeiter in den USA, die Deklassierung mit Rassismus kompensieren. Es ist auch die Geschichte seiner Familie.

Schwebt davon wie die Träume vieler: Heißluftballonwettbewerb über Middletown, Ohio Foto: Imago / Zuma Press

Es gibt wenige Gründe, das Buch eines Mannes in die Hand zu nehmen, der sich als „modernen Patrio­ten“ bezeichnet. J. D. Vance tut das in seinem New-York-Times-Bestseller im Zusammenhang damit, wie der mittlerweile berühmte weiße Arbeiter in den Vereinigten Staaten tickt.

„Hillbilly-­Elegie: Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise“ heißt das Buch. Vance stilisiert sich darin zu einem Mann, dem die Tränen kommen, wenn er Lee Greenwoods kitschige Hymne „Proud to Be an American“ hört, auf die es doch keine bessere Replik gibt als das schöne „Proud to Be an Asshole from El Paso“ von Kinky Friedman.

Aber „Hillbilly-Elegie“ von J. D. Vance gehört zu den besten Sachbüchern in diesem Jahr. Dass der Autor sich erst auf Seite 219 zu den patriotischen Werten seines Landes bekennt, hätte ich ihm sonst übel genommen. In diesem Fall muss man dankbar sein, weil man sonst um einen tiefen Blick in die psychische Struktur des Hillbillys gekommen wäre, die der Autor dem Leser auf präzise und unterhaltsame Weise nahebringt.

Er kann das so gut, weil er selbst diesem merkwürdigen Menschenschlag entstammt und in einer Hillbilly-Familie die Hölle durchlaufen hat, die die meisten Leute zu Verlierern prädestiniert und der zu entkommen es kaum eine Chance gibt.

Das Buch ist keine soziologische Analyse, und nur hin und wieder zitiert der Autor eine meistens aufschlussreiche Statistik, die seine Beobachtungen und Erinnerungen belegen. J. D. Vance beschreibt einfach, wie er als Kind aufwächst und was er erlebt. Und das, was er erzählt, spricht für sich. Der Hillbilly ist der Hinterwäldler, der in einer ländlichen, gebirgigen Gegend wie den Appalachen wohnt, nicht viel zu sagen hat – und wenn, dann in einem kaum verständlichen Dialekt –, der Whiskey trinkt und schnell zur Waffe greift. Hier befindet sich das Kernland der Waffenlobby.

Stolz? Deklassiert!

Viele Menschen zogen in den Siebzigern und Achtzigern auf der Suche nach Arbeitsplätzen in Industrieregionen. Die Familie des 1984 geborenen J. D. Vance verschlug es nach Middletown in Ohio und, wie der Name schon sagt, in eine Gegend, die so austauschbar war wie der Stadtname, den es in fast allen Bundesstaaten gibt.

Aus dem weißen Arbeiter als Stütze einer funktionierenden Gesellschaft, der die Demokraten wählte, wird ein unberechenbarer Reaktionär und Rassist

Als der Manufacturing Belt zum Rust Belt, also zum verrosteten alten Eisen wurde, das in besseren Zeiten dort einmal verarbeitet wurde, saßen viele Menschen, die in solche Städte wie Middletown gezogen waren, fest. Ihre noch nicht abbezahlten Häuser waren plötzlich nichts mehr wert, woanders hinzuziehen war nicht mehr so einfach, also blieb man und sah der Erosion der Stadt zu.

Die sozialen Folgen sind in jeder Beziehung dramatisch, aufschlussreich aber ist vor allem die psychologische Veränderung, die unter den Einwohnern solcher Regionen vonstattengeht. Und hier entfaltet das Buch die Qualitäten, die auch in Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ zu finden sind. Aus Männern, deren Ethos in einem harten Arbeitstag in der Stahl­industrie besteht, die daraus ihr Selbstwertgefühl ziehen und die stolz sind auf die von ihnen geleistete Arbeit und ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft, werden Deklassierte, die jede Arbeit nach kurzer Zeit wieder hinwerfen, die kapitulieren und, egal in welcher Angelegenheit, dem Staat die Schuld geben.

Die Zeit des Umbruchs

Aus dem weißen Arbeiter als Stütze einer funktionierenden Gesellschaft, der die Demokraten wählte, wird ein durch seine Unzufriedenheit unberechenbar gewordener Reaktionär und Rassist, ein Wähler von ­Donald Trump, weil dieser die Irra­tio­nalität ihres Lebens verkörpert und Rache am verhassten ­Establishment verspricht. Und selbst wenn diese Rache den eigenen Untergang bedeutete, würde man noch zu ihm halten, obwohl Trump das komplette Gegenteil ihrer Interessen vertritt.

In dieser Zeit des Umbruchs ist J. D. Vance aufgewachsen und hat wie ein Seismograf die kleinen und großen Erschütterungen wahrgenommen, die sich direkt auf sein Leben auswirkten.

Ihn hätte wahrscheinlich das gleiche Schicksal ereilt wie so viele andere, wenn ihm „­Mamaw“, seine Großmutter, nicht den Halt und die Sicherheit gegeben hätte, die seine „Mom“ ihm nicht bieten konnte, denn die hatte ein Drogenproblem und ständig wechselnde Partner, ein Phänomen, das nirgends sonst auf der Welt so weit verbreitet ist wie in amerikanischen Arbeiterfamilien. Und die daraus entstehenden Konflikte sind so bizarr, dass man nur ungläubig den Kopf schütteln kann und sogar lachen muss, weil solche Geschichten ein Licht auf Personen werfen, auf die Vance nie verächtlich herabblickt.

So erzählt er, wie auf einer Autofahrt aus nichtigem Anlass ein Streit zwischen ihm und seiner Mutter eskaliert, wie seine Mutter am Straßenrand anhält, um ihn zu verprügeln, wie er quer über die Felder zu einem Haus rennt und die dort in einem Swimmingpool liegende Frau um Hilfe anfleht, wie die außer Rand und Band geratene Mutter die Tür eintritt, um ihn herauszuholen, wie die Frau die Polizei anruft, wie Vance schließlich vor Gericht seine Mutter entlasten muss, damit sie nicht hinter Gitter kommt, was bedeutet, dass das Schreckensszenario weitergeht. Wie seine Mutter eine Urinprobe von ihm fordert, weil das Gesundheitsamt ihre Drogenabhängigkeit überprüfen will. Wie seine Großeltern nach einem Gottesdienst mit vorgehaltenen Schusswaffen jedes Auto durchsuchen, das den Parkplatz verlassen will, weil sie glauben, ihr Enkel sei von einem „Perversen“ entführt worden, dabei ist der Enkel nur auf der Kirchenbank eingeschlafen.

Drogen, Alkohol, Gefängnis

Von dieser Art sind die Episoden, die das Klima aus Familienstreit und Gewaltexzessen, befeuert vom Alkohol, aufzeigen und deutlich machen, wie prädestiniert die Karrieren sind, die Menschen in diesem Umfeld einschlagen: früh Kinder kriegen, Drogen und Alkohol, Gefängnis. Umso erstaunlicher, dass der Autor es trotzdem geschafft hat, dass er in der angesehenen Yale University schließlich Jura studierte und inzwischen als Investor arbeitet. Oder vielleicht doch nicht so erstaunlich, denn er geht, weil ihm nichts Besseres einfällt, nach der Schule zum Militär.

Das Buch

J. D. Vance: „Hillbilly-Elegie: Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise“. Ullstein, Berlin 2017, 304 Seiten, 22 Euro

Der Drill, dem er während der Grundausbildung unterliegt, macht aus dem übergewichtigen, pummeligen, antriebslosen Jüngling einen Menschen, der nach seiner Militärzeit weiß, was er will, und der es mit seinem neu erwachten, angestachelten Ehrgeiz auch schafft. Aus J. D. Vance wird ein Mann, der ein Ziel vor Augen hat und es schließlich auch erreicht: eine Familie zu gründen, ein Haus, einen guten Job und eine tolle Frau zu haben, denn das ist es letztlich, was diesen Menschen offenbar antreibt. Es ist nicht die Sehnsucht nach mehr Gerechtigkeit, womöglich sogar nach einer Revolution, sondern es ist home sweet home, weil Leute wie J. D. Vance das immer vermisst haben.

Das Militär als Erziehungs­anstalt und die Familie als Glücksversprechen war schon immer letzte Zuflucht der Verlierer. Das ist deprimierend, aber es würde nichts nützen, dieses Phänomen zu ignorieren, denn immerhin haben zumindest hier diese Institutionen dazu beigetragen, dass sich jemand in seinem Leben zurechtfindet. Darüber hinaus ist J. D. Vance ein großartiger Autor, der eindringlich und überzeugend zu beschreiben versteht, wie verloren und depressiv der deklassierte weiße Arbeiter ist, aber auch wie wenig er sich unterkriegen lässt.

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7 Kommentare

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  • "hin und wieder zitiert der Autor eine meistens aufschlussreiche Statistik"

     

    Wie z.B.,

     

    dass dies http://s176.photobucket.com/user/Tom2007_photo/media/Political%20Images%20for%20Sharing/ManufacturingEmployment-1-1-1.jpg.html

    damit zusammenhängt https://trends.ufm.edu/en/wp-content/uploads/2015/09/Balance-of-trade-China-USA-28092015.png

     

    "Rassismus" ist natürlich schön passend (für die taz;), aber die meisten sind Antiglobalisten.

  • Höchste Zeit, dass in Deutschland die Wehrpflicht wieder eingeführt wird.

  • Icvh bin ja immer noch erstaunt, dass es irgendwen erstaunt, dass diese Leute Trump wählen. Die Linke in Deutschland wie den USA interessiert sich für den abgehängten weißen Proleten doch schon seit geraumer Zeit nur noch in dem Maße, in dem er "problematisch" ist. Wenn soll der denn wählen, damit seine Interessen vertreten werden? Warum denn nicht Trump?

    • @Donnie Brasco:

      Ich fürchte fast, diese Phänomen lässt sich erklären.

       

      Menschen sind Menschen. Unter ihren verschiedenen Outfits, unter ihren diversen kulturellen Lacken und ihrer verschiedenfarbigen Haut sind sie letztendlich alle gleich: Sie brauchen ein Gefühl von Selbstachtung und Sicherheit, auch wenn sie das nicht zugeben. Die „psychische Struktur“ des Hillbilly-Unterschichtlers ist keine andere als die des Uptown-Oberklässlers. Jene „Hölle durchlaufen“, die einen zum Verlierer prädestiniert, kann man nicht nur im Hillbilly. Da aber natürlich auch.

       

      Steil hierarchisch strukturierte Gesellschaften schaffen es einfach nicht, ihre Mitglieder artgerecht zu halten. In einem irren Wettlauf um die besten Sonnenplätze treiben Menschen einander seit Generationen an ihre Grenzen und darüber hinaus. Das eigenverantwortliche Reflektieren bringen sie einander leider nicht mit der gleichen Inbrunst bei. Das hat die immer gleichen blöden Folgen.

       

      Aus Stolz wird ein Gefühl der Deklassierung, aus einem Selbstwert wird die komplette Kapitulation. Aus einer „Stütze der Gesellschaft“ wird ein unzufriedener, unberechenbarer „Reaktionär und Rassist“. Der mit der Muttermilch eingesogene Standesdünkel aber verhindert, dass die Opfer des Prinzips einander quer durch den Raum erkennen können. Der jeweils Andere ist ihnen kein Leidensgenosse und potentieller Kampfgefährte, sondern ein Feind, an dem es sich zu rächen gilt. Man will einander gar nicht mögen, weil man sonst sein Ventil verlieren würde.

       

      Passiert das all zu oft, wird aus einer funktionierenden Demokratie eine disfunktionale Diktatur. Die spannende Frage ist, was dem „moderne“ Alles-oder-nichts-Menschen wichtiger ist: Sein Recht auf eine nie endende Kleinkind-Emotionalität, oder sein Überleben.

      • @mowgli:

        PS: Ich glaube, es geht hier auch nicht um eine "nie endende Kleinkind-Emotionalität". Diese Leute sehen die Grundlage ihrer Existenz und ihrer Lebensart bröckeln, in einem Prozess der nun schon Generationen anhält, und sie suchen mit aller durch Depression, Alkoholismus usw. zersetzten Kraft, diesen Prozess aufzuhalten. Politischer Einfluss ist ein knappes Gut - und was wahrgenommen wird ist, dass die eigenen Anliegen an das Ende der Schlange gerutscht sind, während Clinton versucht hat, sich mit Politik für (Erfolgs-)Frauen und gegen die Unterdrückung von Minderheiten zu profilieren. Im ersten Fall ist die Problematik sehr weit von den drängenden Problemen der Lebenswirklichkeit Mittelamerikas entfernt. Die Immigranten nimmt man vor allem als Konkurrenten um das vor Ort extrem knappe Gut Arbeit, und als weiteren Drücker für die Löhne wahr.

         

        Jetzt könnte man eventuell drüber streiten ob die Zerstörung des Heimatdorfes durch Arbeitslosigkeit und Drogen ebenso wichtig ist wie der Kampf für die Rechte von Immigranten. Damit macht man dann vor allem klar, dass man für Mittelamerika kein "Ally" ist.

         

        Vielleicht hätte ein Sanders hier noch begrenzt Erfolg damit gehabt, diesen Leuten zu vermitteln, dass ihre Anliegen von den Demokraten als wichtig und legitim wahrgenommen werden. Hillary hat hingegen einen Wahlkampf für die urbanen, globalisierten, entwurzelten Eliten in den Küstenregionen der USA gemacht.

        Trump hat sich wenigstens die Mühe gemacht, das "Heartland" zu belügen. Im demokratischen Wahlkampf kam es gar nicht mehr vor.

      • @mowgli:

        Kurz gesagt, die Welt dieser Leute bricht zusammen - die althergebrachten Methoden der Reproduktion ihrer Kultur funktionieren nicht mehr, weil ihnen die ökonomische Basis dafür weggebrochen ist. Natürlich wirkt sich das alles auf "Gefühle" aus, das ist aber meines Erachtens weniger wichtig als die Tatsache, dass diese Menschen sich selbst zusehen können, wie sie und ihre gesamte Handlungslogik zu Auslaufmodellen geworden sind, und die einzige Möglichkeit die ihnen geboten wird ist: die Zelte abzubrechen und wo ganz anders was ganz anderes zu machen.

         

        Natürlich sind sowohl der Hillbilly als auch der Oberklässler auf Karbon basierende Lebensformen, aber: Das halte ich für eine ganz andere Qualität von Hölle als die, welche einem "Uptown-Oberklässler" geboten wird.

  • Nach etwas ungläubigem Kopfschütteln -

    Daß die ersten beiden Sätze von -

    Klaus Bittermann sein sollen - in echt -¿ -

     

    Den Rest gern gelesen.

    Gekauft.