SZ-Podcast „71 Schüsse“: Raum für Unbehagen

Marcel Laskus saß im Unterricht, als ein Schüler 16 Menschen tötete. 20 Jahre später blickt Laskus auf den Amoklauf in Erfurt und das Medienversagen.

Medienschaffende stehen Schlange um am Tatort in Efurt ein Bild vom Amoklauf zu bekommen

Die Medienjagd auf Bilder und Töne war 2002 in Erfurt enorm Foto: photoo200/imago images

Mit „True Crime“ ist es ja so eine Sache: Geschichten über wahre Verbrechen sind spannend, keine Frage. Aber genau das ist das Problem bei diesem Genre. Ist es nicht irgendwie falsch, wenn Geschichten über Morde, Anschläge und Betrug nur die Krimigelüste des deutschen Publikums befrieden? Schließlich geht es bei True Crime um echte Verbrechen, echte Täter und echte Opfer, die man im Zweifel mit seiner packenden Erzählung und der zugehörigen Recherche aufs Neue mit den schlimmen Erlebnissen von damals belästigt.

Gerade wenn es um jahrzehntealte Fälle geht, sollte es einen Grund geben, warum man sie als Journalistin wieder hervorkramt. Weil sie für eine größere Sache stehen zum Beispiel, für neuralgische Punkte in unserer Gesellschaft; für Dinge, die schief laufen im Justizapparat. Weil sie an einzelnen Schicksalen verdeutlichen, was sich im Großen verändern muss.

Für den Podcast „71 Schüsse“ des SZ Magazins, der die Geschehnisse um den Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt 2002 behandelt, gilt dieser Anspruch umso mehr. Denn der Amoklauf, bei dem ein ehemaliger Schüler vor zwanzig Jahren zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler, einen Polizisten und dann sich selbst erschoss, brachte nicht nur jenes Grauen nach Deutschland, das man bis dahin gern als US-amerikanisches Problem abgetan hatte. Was in Erfurt geschah, steht heute auch beispielhaft für ein Medienversagen.

Reporter, vor allem die der Boulevardblätter, hatten nach der Tat Schüler, Angehörige der Opfer und des Täters bedrängt, hatten sich gar als Ersthelfer verkleidet, um sich an Betroffene heranzumachen. Medien hatten einen Lehrer in den Himmel gelobt, der angab, den Täter schlussendlich überwältigt und somit den Amoklauf gestoppt zu haben. Ebenso schnell läuteten sie den Absturz ihres Helden ein, als Zweifel an dessen Geschichte aufkamen. Journalisten haben damals wahrlich kein gutes Bild abgegeben. Umso höher ist der Anspruch, an dem sich „71 Schüsse“ heute messen lassen muss.

71 Schüsse – Mein Leben

nach dem Amoklauf von

Erfurt“.

Die erste Episode gibt

es kostenlos auf süddeutsche.

de, die restlichen sechs mit

SZ-Plus-Abo

Das scheint den Macherinnen Marcel Laskus und Marisa Gierlinger bewusst zu sein. Denn, und das ist die große Stärke dieses siebenteiligen Podcasts, „71 Schüsse“ geht die Medien-Problematik um True-Crime-Formate frontal an: Indem Laskus als Host der zweifelhaften Rolle der Journalisten von damals viel Raum gibt. Und indem er die Zweifel während der eigenen Recherche immer wieder behandelt: die Frage, ob und wie man den Täter und seine Familie zum Thema des Podcasts machen sollte – das Unbehagen, Opferangehörige nach so vielen Jahren wieder mit den Geschehnissen zu konfrontieren.

Dass ihm die Gespräche schwerfallen, sagt Laskus immer wieder. Und man hört es ihm auch an: Wenn er mit wackeliger Stimme bei der Mutter einer getöteten Referendarin anruft. Wenn er etwas peinlich berührt seine alten Schulfreunde fragt, wie sie den Amoklauf erlebt haben. Denn das ist eine weitere Besonderheit: Marcel Laskus ist in diesem Podcast nicht nur Reporter und Host. Er ist auch Betroffener. Er saß 2002 als Schüler in einem Klassenzimmer des Gutenberg-Gymnasiums, als die Schüsse fielen.

Laskus’ Doppelrolle, sein Zwiespalt zwischen Berichterstattung und Betroffenheit, macht ihn in erster Linie zu einer glaubwürdigen Stimme: In dieser Erzählung vom Amoklauf, die zugleich Metaerzählung ist über das damalige Medienversagen, kann er empathisch auf die Wut und das Misstrauen eingehen, das die Erfurter gegen seinen eigenen Berufsstand hegen – denn als Schüler des Gutenberg-Gymnasiums ging es ihm genauso. Es ist schwer, Menschen zu einem Interview zu bewegen, die einmal schlechte Erfahrungen mit der Presse gemacht haben. Eine zweite Chance für eine bessere Berichterstattung gibt es selten. „71 Schüsse“ war eine Chance. Die Macherinnen haben sie genutzt.

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