SPD beschließt Wahlprogramm: Glaube, Hoffnung, Zuversicht
Die Umfragen sind schlecht, der Wille der SPD aufzuholen groß. Man setzt auf Pragmatismus, linke Inhalte und Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten.
Am Samstagmittag steht Olaf Scholz auf der ausladenden Bühne der City Cube Halle und sagt „Also kämpfen wir“. Es ist ein dramaturgisch fragiler Moment seines Auftritts. Denn es fehlt die Betonung, die den 596 Delegierten klarmacht, dass die Rede jetzt zu Ende ist. Erst nach zwei, drei Sekunden klatschen die GenossInnen. Diese unbeabsichtigte Verzögerung ist ein Symbol für das Verhältnis der Partei zum Kanzler: Es war immer störanfällig.
Fast die Hälfte der gut 50-minütigen Rede warnt der Kanzlerkandidat vor der Union. Die CDU/CSU wolle die Renten kürzen und das obere eine Prozent begünstigen, und dafür „einen Riesenkrater von 100 Milliarden in den Haushalt“ reißen. Wenn die Union regiere, „werden die normalen Leute die Zeche“ zahlen. Persönliche Angriffe auf den Unionskandidaten spart Scholz sich.
Die normalen Leute sind eine Art Refrain dieser Rede. Die seien die „Leistungsträger, nicht die oberen 10.000.“ Die SPD sei Stimme der vielen Vernünftigen und Anständigen, von Industriearbeitern und Pflegekräften. „Die normalen Leute haben Anspruch auf pragmatische Lösungen. Die bekommen sie mit uns.“
„Verdammt ernste Zeiten“
Scholz redet eher sachlich als gefühlsbetont, eher abstrakt als griffig, eher allgemein als anschaulich. Wer einen neuen Scholz erhofft hatte, der den Parteitag anzündet, dürfte enttäuscht sein. Neu ist allerdings eine Formulierung zur Ampel. „Vielleicht hätte ich öffentlich früher auf den Tisch hauen und die Ampel früher beenden sollen“ sagt Scholz. Der Beifall dafür ist spontan und laut.
Wir leben, so Scholz mit Blick auf einen möglichen rechtsextremen Kanzler in Österreich, in „verdammt ernsten Zeiten“ Es sei eine Zeit der Enthemmung, nicht nur wegen Putins Krieg. Dass Grenzen unverletzlich sind, sei ein „westlicher Wert“, der für alle gelte. Gemeint sind damit Trumps irrwitzige Drohungen an Dänemark, Kanada und Panama. Scholz erwähnt Trump, der in acht Tagen US-Präsident sein wird, mit Bedacht nicht namentlich. Er redet als Wahlkämpfer, aber auch als Kanzler, der außenpolitisch diplomatisch formuliert.
Inhaltlich referiert Scholz die zentralen Punkten des Wahlprogramms. Unternehmen, die in Deutschland investieren, sollen mit Steuererleichterungen, einem „Made in Germany“-Bonus gefördert werden. Der Mindestlohn soll auf 15 Euro steigen. Die SPD will, dass die oberen fünf Prozent mehr Einkommensteuer zahlen, zugunsten der „normalen Leute“. Im Programm wird auch die Wiedereinführung der Vermögensteuer und eine höhere Erbschaftsteuer gefordert, allerdings ohne Zahlen. Scholz möchte „das obere ein Prozent etwas mehr in die Pflicht nehmen“. Diese moderate Formulierung ist kein Zufall. Scholz will, dass die SPD Konservativen beim Thema Umverteilung wenig Angriffsfläche bietet.
Vom Scholz-Kritiker zum Scholz-Ultra
Für manche Genoss:in dann doch überraschend, geht Scholz auf die Jusos zu, lobt deren Konzept für bezahlbare WG-Zimmer, das es ins Wahlprogramm geschafft hat. „Von solchen intelligenten Vorschlägen brauchen wir mehr“, so Scholz väterlich.
Juso-Chef Philipp Türmer bedankt sich überschwänglich bei Scholz und vollzieht öffentlich den Wandel vom Scholz-Dauerkritiker zum Scholz-Ultra. Der sei der einzige, der noch verhindern könne, dass „Fritze Merz, dieser ultrakapitalistische Dinosaurier, Kanzler wird. Und dabei hast du unsere volle Unterstützung.“
Nach dem quälenden parteiinternen Streit um die Kanzlerkandidatur herrscht parteiintern nun Geschlossenheit. Hauptgegner, da sind sich (fast) alle einig, ist die Union mit Friedrich Merz, wobei Seitenhiebe auf die grüne Konkurrenz durchaus erlaubt sind. „Habt ihr keine Selbstachtung“, wirft Juso-Chef Türmer den Grünen vor, die ihm zufolge jeden Morgen neue Liebeserklärungen an die Union abgäben. Laut Forschungsgruppe Wahlen sind die Grünen gerade an der SPD vorbeigezogen – das schmerzt.
Dass Scholz die Union massiv angegangen ist, kommt bei vielen im Saal gut an. Entwicklungspolitikerin und Parteilinke Sanae Abdi, Direktkandidatin in Köln, lobt, dass Scholz die Unterschiede zur Union deutlich herausgestellt habe. Dagmar Schmidt, Sprecherin der Parlamentarischen Linken, findet: „Scholz hat den richtigen Ton getroffen. Die Zeiten sind ernst, wir brauchen keinen Zampano.“
Der Tenor: Die Pflicht war gut, die Kür könnte besser sein, aber Scholz sei eben Scholz.
Seenotrettung und WG-Garantie
Dass gerade die Parteilinken so versöhnt sind mit ihrer Partei und dem Kanzlerkandidaten, ist kein Zufall. Fast jeden ihrer Änderungsanträge hat die Antragskommission ins Wahlprogramm übernommen – dort taucht nicht nur die WG-Garantie auf, sondern auch der politisch verbrannte Begriff der Kindergrundsicherung. Auch eine staatlich finanzierte Seenotrettung und sogar eine verklausulierte Forderung nach einem regionalen Mietendeckel tauchen auf. Frei nach der Devise: Bloß kein Streit, die Details der Wahlprogramme interessieren eh niemanden, und nach der Wahl wird neu verhandelt.
Die großen Auseinandersetzungen bleiben erwartungsgemäß aus: Die Delegierten beschließen das Programm und küren Scholz mit überwältigender Mehrheit per Akklamation zum Kanzlerkandidaten. Nur fünf Delegierte wagen es, öffentlich gegen ihn zu stimmen.
Dass Scholz Kanzler bleibt, dafür würde keiner hier sein Leben verwetten, heißt es unter der Hand. Es sei auch ein Erfolg, wenn man es schafft, im Schlussspurt auf 20 Prozent zu kommen – und in Schlagweite der Union. Ein Wert, den die SPD in Umfragen zuletzt Anfang Februar 2023 erreichte.
In manchem Ministerium denken die unteren Ebenen bereits über „Anschlussverwendungen“ nach. Klar ist: Für Olaf Scholz wird es keine Anschlussverwendung geben. Sein politisches Schicksal ist mit dem Kanzleramt verknüpft. Er hat noch 43 Tage, um zu kämpfen.
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