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SPD-Politikerin über 219a„Die Liste funktioniert nicht“

Nina Scheer will SPD-Chefin werden – und den Kompromiss zum „Werbeverbot“ für Abtreibungen neu verhandeln. Im Grunde gehöre der Paragraf gestrichen.

Nina Scheer bewirbt sich mit Karl Lauterbach um die Kandidatur für den SPD-Parteivorsitz Foto: dpa
Patricia Hecht
Interview von Patricia Hecht

taz: Frau Scheer, kürzlich hat die Bundesärztekammer eine Liste mit Ärztinnen und Ärzten veröffentlicht, die in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche vornehmen – mit nur 87 Einträgen. Sie fordern, die Liste müsse besser werden. Wie könnte das klappen?

Nina Scheer: Es ist bekannt, dass es bundesweit etwa 1.200 Frauenärztinnen und -ärzte gibt, die Abbrüche vornehmen. Diese Anzahl findet sich auf der Liste nicht annähernd. Wenn wir Frauen wirklich informieren wollen, muss die Liste vollständig sein.

Einige haben schon erklärt, dass sie gar nicht auf die Liste wollen, weil sie diese als Pranger empfinden. Kann die Liste so jemals funktionieren?

Als Gesetzgeber muss man immer bereit sein, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Die jetzige Situation bedeutet fortwirkende Rechtsunsicherheit für Ärztinnen und Ärzte und Informationsdefizite für Frauen. Es kann nicht sein, dass sogenannte Lebensschützer im Netz hetzen dürfen, aber die Ärztinnen und Ärzte nicht über ihre Arbeit aufklären dürfen. Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen ist eine legale, unverzichtbare Leistung.

Auch jenseits der Anzahl sind die Informationen auf der Liste dürftig. Wie die Frauen sich vorbereiten können, wie genau die Abbrüche ablaufen, steht da nicht.

Die Bundesärztekammer muss ausschöpfen, was das Gesetz hergibt. Es ist das Mindeste, dass der Kompromiss, den die SPD ohnehin nicht gern eingegangen ist, nun dem Sinn und Zweck nach umgesetzt wird.

Das heißt?

Im Interview: Nina Scheer

47, ist Umweltexpertin und Bundestagsabgeordnete der SPD und bewirbt sich gemeinsam mit dem Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach für den SPD-Vorsitz.

Wenn die Umsetzung des Gesetzes nicht funktioniert oder das gesellschaftliche Stigma sogar noch befeuert wird, kann es nicht so bleiben; konsequenterweise muss der Paragraf 219a dann gestrichen werden. Das war ja auch die Ursprungsforderung der SPD. Es ist ein Missverständnis, zu denken, die SPD gebe diese Forderung mit einem Kompromiss auf.

Wie soll das gehen, den Kompromiss noch mal zu verhandeln – in der Lage, in der die SPD gerade ist?

Wenn erkennbar ist, dass der Kompromiss nicht zielführend umzusetzen ist, muss zwangsläufig neu verhandelt werden. Sonst würden wir unsere eigenen Gesetze für unwichtig erklären.

Können Sie Ihre Fraktion denn dazu hinter sich bringen? Die Situation mit einer Union, die sich sträubt, wäre wieder genau dieselbe.

Die Situation ist doch eine andere: Die Liste funktioniert nicht. Wenn die Liste funktioniert hätte, müsste die Koalition erklären: Der Kompromiss war das, was innerhalb der Koalition möglich war, auch wenn das SPD-seitig von der Sache her für nicht ausreichend gehalten wurde. Jetzt aber gibt es eine neue Situation und damit erneut Handlungsbedarf.

Noch mal: Würden Sie die Mehrheiten in der Fraktion hinter sich bringen?

Was am Ende steht, weiß man vorher nie. Wenn man nur tätig wird, wenn Mehrheiten gewiss sind, ist Stillstand. Ohne entsprechende Forderung wird sich nichts ändern können. Alles Weitere wird sich zeigen.

SPD-Chefin Dreyer für Linksbündnis

Malu Dreyer, Interims-Chefin der SPD, ist offen für eine Koalition mit der Linken im Bund. „Sollte es eine Mehrheit links von der Union geben, müssen wir das Gemeinsame suchen und das Trennende analysieren“, sagte sie der Funke-Mediengruppe. „Unser Anspruch muss sein, ein Bündnis anzuführen.“ Natürlich teile man nicht alle Positionen mit der Linken. „Koalitionspartner sind nie das Gleiche wie man selbst. Dann muss man sich eben verständigen.“ Linke-Chefin Katja Kipping sagte, es gebe Hoffnung für neue linke Mehrheiten nach der nächsten Bundestagswahl. (dpa)

Sie kandidieren als SPD-Vorsitzende und haben angekündigt, aus der Groko gehen zu wollen. Ist die Forderung nach der Abschaffung des Paragrafen 219a eine Profilierung nach links, ohne dass tatsächlich etwas daraus folgen kann?

Nein. Ich finde es schade, dass dieser Vorwurf kommt. Mein jetziger Vorstoß wurde durch die Liste der Bundesärztekammer ausgelöst. Wenn die Liste vor meiner Kandidatur gekommen wäre, hätte ich ebenso reagiert, wäre aber möglicherweise anders wahrgenommen worden. Für mich ist das eine Frage der Überzeugung. Soll ich als Kandidatin nicht mehr erklären, was ich für richtig halte, nur um einem solchen Vorwurf zu entgehen? Das wäre doch absurd.

Sie selbst haben damals für den Kompromiss gestimmt.

Ja, ich hatte damals auch eine persönliche Erklärung verfasst, in der ich meine Kritik an dem Kompromiss erläuterte. Letztlich war ausschlaggebend, dass eine kleine Verbesserung erreicht wurde, indem Ärztinnen und Ärzte nun wenigstens über die Tatsache informieren dürfen, dass sie Abbrüche machen. Zu mehr waren CDU und CSU bekanntlich nicht bereit.

Warum haben Sie nicht auf einer interfraktionellen Abstimmung bestanden?

Die Union war dazu nicht ­bereit.

Die Union hat das doch gar nicht in der Hand. Linke, Grüne, FDP und SPD hätten die Mehrheit zustande gebracht.

Das ist nicht die Praxis in Koalitionen. In Koalitionsverträgen steht: keine wechselnden Mehrheiten. In dem Moment, in dem ein Koalitionspartner sagt, wir wollen das nicht, ist dieser Weg für den anderen Koalitionspartner verschlossen. Alles andere ist Vertragsbruch. Aber wenn die Positionen insgesamt zu weit auseinanderliegen, wie es auch beim Klimaschutz oder der Energiewende der Fall ist, muss man die Koalition eben hinterfragen oder verlassen. Alles andere führt zur Handlungsunfähigkeit, stärkt Rechtspopulismus und schadet unserer Demokratie.

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16 Kommentare

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  • Ich glaube nicht dass dieses Duo den SPD-Vorsitz erhält.



    Sollte es doch so sein würde die Partei einen großen Schritt machen in Richtung 5-Prozent -Hürde.

  • Na Sicher. Na Genau.

    “ Im Grunde gehöre der Paragraf gestrichen.“

    Aber schon Hägar der Schreckliche.



    Befahren auf allen Meeren der Welt.



    Fragte sich einst - “Wo liegt das eigentlich? Im Grunde" 👻 👻 👻 🕳

  • Ein Kompromiss der 90er wird zum Thema weil jemand mutwillig dagegen verstößt. Dann wird er wieder aufgemacht, Und jetzt werden noch mehr Leute ihre Zeit daran verschwenden den Paragraphen kaputt zu machen. Ein Paragraph ohne Opfer, außer denen die es demonstrativ drauf anlegen.

    • @Ansgar Reb:

      nein, das wurde zum Thema, weil aggressive Abtreibungsgegner es zum Thema gemacht haben.

    • @Ansgar Reb:

      Natürlich hat der Paragraph Opfer: schwangere Frauen, die neutrale Information suchen.

      Wenn Sie das nicht sehen, dann weil Ihre Ideologie Sie blendet.

      • @tomás zerolo:

        was soll das Gerede? Jeder Arzt und jede Ärztin darf neutral mitteilen, dass er oder sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt - auf der Webseite! Dann kann die Frau einen Kontakt herstellen dune erfährt alles, was sie wissen will.

        • @Monika Frommel :

          ...mit einem gewissen Risiko, ja. Fragen Sie Frau Hänel.

      • @tomás zerolo:

        Na - ok. Eigentlich schwer durch. Aber.

        “Marx, 219a, Gewalt

        Unangenehme Unordnungen



        Hat Marx den Kapitalismus nicht kapiert? Gibt es Frauen, die nicht abtreiben konnten, weil dafür nicht geworben werden darf? Und wie viele Faustschläge machen einen Gewalttrend? Thomas Fischer analysiert für SPIEGEL ONLINE.

        Eine Analyse von Thomas Fischer



        (Auszug) …



        Es handelt sich also nicht um einen Streit über Information, sondern um einen Streit über Werbung. Werbemäßig, das muss man zugeben, war die milde Geldstrafe für Frau Dr. H. die bestmögliche Investition. Mehr als eine wochenlange Dauerpräsenz in der Presse und eine Rolle als Märtyrerin einer Befreiungsbewegung kann kein Dopingarzt, kein Reproduktionsmediziner und kein Körperoptimierer für so wenig Geld kriegen. Insoweit also nicht schlecht gelaufen.

        Die Forderung nach "Streichung von § 219a" ist Unsinn oder irreführend. "Grob anstößige Werbung" wollen vermutlich selbst die härtesten Reproduktionsbefreier nicht, denn man kann nicht ernsthaft verlangen, dass Großplakate geklebt oder Anzeigen geschaltet werden dürfen wie: "Schwanger - das muss nicht sein!" oder: "Abtreibung einmal anders - Vier Tage Hochschwarzwald". Glauben Sie nicht, dass nicht irgendwer auf solche Ideen kommen würde, wenn es Geld brächte! Aber auch unterhalb dieser der Fantasie anheimgestellten Ebene wären wohl Werbungen mit der "angenehmen Atmosphäre", dem "luxuriösen Ambiente" und ähnlichem Schnickschnack, wie es etwa bei plastischen Chirurgen inzwischen üblich ist, schwer vermittelbar. …

        ff Rest

        • @Lowandorder:

          ff

          “…Ergo: "Grob anstößige Werbung" muss sowieso verboten bleiben. Dass das Standesrecht dazu ausreicht, kann bezweifelt werden. Standesorganisationen haben sich in der Vergangenheit nicht gerade dadurch hervorgetan, Missgriffe und Gesetzesübertretungen der Kolleginnen und Kollegen mit eisernen Besen zu verhindern. Und dadurch, dass ein Verbot nicht im StGB, sondern an anderer Gesetzesstelle stünde, würde das Verhalten ja auch nicht erlaubter. Das Verbot der Werbung ist, zugegebenermaßen, ein wenig symbolisch. Aber es wird nicht Nichts symbolisiert, sondern ein mühsam errungener Kompromiss über die faktische Freigabe der Abtreibung bei Vermeidung ihres öffentlichen kommerziellen Angebots. Das StGB wimmelt von "symbolischen" Vorschriften, viele Unterzeichner des "Offenen Briefs" haben oftmals immer neue gefordert.

          Bleibt, am Grunde von allem, die Abtreibung selbst. Äußerst mühsamer Kompromiss vor 23 Jahren. Forderungen wie "Streichung von § 218 StGB!" können nicht ernsthaft diskutiert werden: Ein Embryo ist kein Weisheitszahn; er hat eigene Menschenrechte. Eine Geburtenregulierung via Abtreibung kann man, vorerst, der prä-orwellschen Gesellschaft nicht vermitteln, mögen die Versprechen einer von Biologie befreiten Reproduktion noch so strahlend leuchten.

          Und die andere Extremposition ist ebenso lebensverachtend: Weil sie zwar gut zu den Ungeborenen, aber gnadenlos zu den Geborenen ist, und es nicht ansatzweise schafft, ein glaubhaftes Modell sozialer Zugewandtheit und Zärtlichkeit zu präsentieren, welches den Hoffnungen und Begrenzungen des Menschseins gerecht würde.

          ff Rest

          • @Lowandorder:

            Das Standesrecht hat eine andere Aufgabe! Es regelt das Verhältnis der Ärzte untereinander! Es stellt eine faire Konkurrenz sicher.

            • @Monika Frommel :

              Sorry - Aber Sie verstehen a) - nix & b) ist ehna Ironie scheint’s fremd.

          • @Lowandorder:

            Daher muss man einen Kompromiss finden. Die deutsche Gesellschaft hat ihn, wie auch immer, zwischen der erbärmlichen Reproduktionsindustrie des Stalinismus und der erbärmlichen Verleugnungsindustrie des Klerikalismus im Jahr 1995 hingebastelt. Er "funktioniert" seither einigermaßen: 100-120.000 Abtreibungen im Jahr; auf 1000 Lebendgeburten kommen in Berlin 230, in Baden-Württemberg 90 Abtreibungen. Die Position, die von jeglicher Einschränkung freie Wegmachung von Reproduktionswucherungen für eine Bedingung menschlicher Befreiung zu halten, findet in der Gesellschaft keine Mehrheit. Die gern benutzte Behauptung, dass "keine Frau sich die Entscheidung leicht mache", ist leider falsch. Es ist also, wie es ist.

            Ergo: Ob auf Praxisschildern, Internetseiten und in Werbeanzeigen auf das Leistungsangebot "Abtreibungen" hingewiesen werden darf, scheint mir selbst nicht wichtig. In anderen ethisch hochumstrittenen Bereichen - zum Beispiel Sterbehilfe - fordert allerdings niemand Werbefreiheit als Grundbedingung von Freiheit. Zwei Fragen zum Schluss: Gibt es Frauen, die nicht abtreiben konnten, weil es keine oder nicht genug Werbung für Abtreibung gab? Und gibt es Ärztinnen und Ärzte, die nicht bereit sind, über Abtreibungen zu informieren, wenn sie nicht für die Abtreibungsleistung werben dürfen? Das wären die ersten Fragen, die zu § 219a StGB gestellt werden müssten. Erst nach ihrer Beantwortung könnte man darüber diskutieren, ob und ggf. wie Abhilfe notwendig wäre. Der Rest ist "Stimmung".

            anschließe mich. Hab noch nichts gelesen. Was dazu widerlegendes vorgebracht hätte bzw. hat.

            unterm——



            www.spiegel.de/pan...alt-a-1207274.html



            &



            www.zeit.de/gesell...-gesetzesaenderung -

            • @Lowandorder:

              Der Text von Fischer zum Paragraphen 219 a StGB ist einer der besten, die er bisher geschrieben hat. Kann man tatsächlich alles so unterschreiben.

              • 7G
                76530 (Profil gelöscht)
                @Lockenkopf:

                Ich bin sicher: Herr Fischer wird sich jetzt geadelt fühlen. Die Krönung seines Schaffens.

              • @Lockenkopf:

                sorry: Thomas Fischer schreibt dazu nicht informiert, weil er seit der Reform 1995 seine Kommentierung ergänzt, aber nicht durchdacht hat!

                • @Monika Frommel :

                  & wie bitte - falls Gnädigste - sich mal bitte bemühe wolle? - Wär's richtig durchdacht?

                  unterm—-btw



                  (von ehra Satzlogik mal ab.)

                  kurz - Dank im Voraus