SPD-Klausur in Erfurt: Kein Kuschelkurs in Sicht
Nach dem Machtkampf zwischen Regierungschef Michael Müller und Fraktionschef Raed Saleh versucht die SPD die Wogen zu glätten. Das gelingt ihr nur bedingt.
Es ist mucksmäuschenstill, als die Sozialpädagogin Rebecca Friedmann über Stolz und Scham sinniert, über fehlendes Selbstbewusstsein und mangelnde Affektkontrolle. Aber die Gastrednerin und Verhaltenstrainerin Friedmann spricht nicht über die Berliner SPD und die Querschüsse ihres Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh, sondern über die Deradikalisierung jugendlicher Intensivtäter. Ein bisschen Deradikalisierung im innerparteilichen Streit aber täte auch der SPD gut.
Die SPD-Fraktion ist mal wieder auf Klassenfahrt, und natürlich stand während der dreitägigen Klausur in der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt die Frage im Raum, ob und wie Raed Saleh und der Regierende Bürgermeister Michael Müller miteinander klarkommen. Eine gute Woche zuvor hatte Saleh die Bühne des Berliner Abgeordnetenhauses genutzt, um den Sicherheitskompromiss, den Rot-Rot-Grün zuvor auf einer Senatsklausur ausgehandelt hatte, in Bausch und Bogen zu verdammen und mehr Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen zu verlangen. Jugendliche, die Obdachlose anzündeten, hatte Saleh zudem gesagt, hätten ihr Gastrecht verwirkt.
Im Mittelpunkt der Arbeit der 38 SPD-Abgeordneten und der anwesenden SPD-Senatoren stand die Arbeit am 100-Tage-Programm des rot-rot-grünen Senats.
Innensenator Andreas Geisel kündigte an, dass die 45 Millionen Euro, die in diesem Jahr für innere Sicherheit ausgegeben würden, erst der Anfang seien. Er stellte bessere Bedingungen für das Schießtraining der Polizei in Aussicht und betonte, seine Verwaltung habe 332.000 Euro für mehr Videoüberwachung zur Verfügung gestellt.
Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen gab sich zuversichtlich, bereits in diesem, spätestens aber im nächsten Jahr mehr als zwei Milliarden Euro investieren zu können. (wera)
Hat Saleh verstanden?
Saleh hatte viel Beifall für diese Provokation bekommen – von CDU und AfD. Die Grünen dagegen zeigten sich „irritiert“. Beim Koalitionspartner die Linke hieß es sogar, der SPD-Fraktionschef sei eine „tickende Zeitbombe“. In der SPD selbst griffen sechs Kreisvorsitzende zu einer Protestform, die es bis dahin noch nicht gegeben hatten. Sie schrieben dem „lieben Raed“ einen Brief, in dem es heißt, er sei der eigenen Partei „in den Rücken gefallen“.
Erfurt sollte nun zeigen: Hat der „liebe Raed“ verstanden? Oder war er ganz wohlkalkuliert in den Konflikt gegangen? In seiner Rede schlägt der Fraktionschef zunächst versöhnliche Töne an. „Michael hat richtig gehandelt, in dem er Andrej Holm vor die Tür gesetzt hat“, lobt er das Vorgehen des Regierenden, der von der Linken die Entlassung des stasibelasteten Staatssekretärs Holm gefordert hatte. „Unsere Glaubwürdigkeit stand in dieser Frage auf dem Spiel.“ Auch gelobt der Fraktionschef künftig mehr Kommunikation: „Auf dich wird in den nächsten Jahren eine große Verantwortung zukommen. Das ist sicher schwierig, aber gemeinsam werden wir es schaffen.“
Gleichzeitig aber macht der 39-jährige, der im Westjordanland geboren wurde und in Spandau den Weg in die SPD fand, deutlich, dass die SPD wieder stärker auf die kleinen Leute zugehen müsse. „Wir stehen für die ganze Gesellschaft, für die Armen und die Abgehängten, für die Menschen mit zwei drei Jobs genauso wie für die ganz normale Bevölkerung“, zeigt sich Saleh kämpferisch.
Dabei schlägt Saleh auch einen großen historischen Bogen. „Der absolute Wille, die Gesellschaft voranzubringen, hat seinen Anfang hier in Erfurt.“ Saleh beruft sich dabei auf den Erfurter Parteitag der SPD von 1891, auf dem Leute wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht die SPD erst „erfunden“ hätten. Nun, so der SPD-Fraktionschef, gelte es die SPD „neu zu erfinden“. „Der Geist von Erfurt kann auch für unserer Projekt beflügelnd sein, lasst uns ein Beispiel an Bebel nehmen“, beschwört Saleh den Erfolg der rot-rot-grünen Koalition in Berlin und spricht dann den Regierenden persönlich an. „Herzlich willkommen bei deiner SPD-Fraktion.“
Raed Saleh, SPD-Fraktionschef
Michael Müller, wie immer bei Fraktionsklausuren leger gekleidet, reagiert nicht gerade euphorisch auf das Friedensangebot seines Kontrahenten. In seiner Rede richtet er den Blick nach vorne, mahnt, man müsse nun seine Arbeit machen und nicht darüber diskutieren, „wer welche Befindlichkeiten hat“. Dabei betont der Regierende die positiven Botschaften, die während des holprigen Starts von R2G untergegangen seien. „In den Bürgerämtern bekommt man wieder Termine“, sagte Müller. „Das 100 Tage Programm mit 60 Punkten ist ein wichtiger Schritt nach vorne.“ All das habe man in den ersten fünf Wochen, trotz des Anschlags auf dem Breitscheidplatz, auf den Weg bringen können. „Wir haben eine Grundlage, auf der wir aufbauen können.“
Dennoch muss Müller sogleich den nächsten Fehlschlag einräumen. „Beim BER sind wir an einem Punkt, wo wir sagen müssen: Das kann 2017 nicht mehr funktionieren mit der Eröffnung.“
Den SPD-Fraktionschef fechten solche Hiobsbotschaften nicht an. Während Müller mit den Herausforderungen eines Dreierbündnisses zu kämpfen hat, sieht er sich selbst für das Große und Ganze zuständig. Saleh will Signale setzen, auch für den Bundestagswahlkampf. Seine Stichworte sind ein starker Staat und soziale Gerechtigkeit. Den Abgeordneten rät er, im Bundestagswahlkampf „in die Kneipen und in die Kleingärten zu gehen“ – dorthin also, wo Saleh die AfD-Wähler vermutet, die er gerne wieder für die SPD zurückgewinnen möchte.
Soziale und innere Sicherheit, für Saleh gehört das zusammen. Auch deshalb betont er, dass er an seiner Rede im Abgeordnetenhaus nichts zurückzunehmen habe. Nur vom Asylrecht als „Gastrecht“ würde er nicht mehr sprechen. So viel Abgrenzung zu Sahra Wagenknecht und der AfD darf dann doch sein.
Wer hat mehr Rückhalt?
Nach Erfurt jedenfalls ist klar, dass der Streit bei den Sozialdemokraten weiter gehen wird. Und mit ihm die Frage, ob Saleh an Rückhalt in der Fraktion verloren hat. Acht der neun neuen Abgeordneten stünden hinter ihm, heißt es in seinem Lager. Die Neuen selbst aber machten in einer Vorstellungsrunde deutlich, dass sie eher wenig von einem Machtkampf in der SPD halten. Ihnen geht es um die Sacharbeit – und um den Erfolg von Rot-Rot-Grün.
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