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SPD Berlin vor dem ParteitagBeziehungsstatus: kompliziert

Nach der Dauerkrise herrscht in der Hauptstadt-SPD eine Art Burgfrieden. Die CDU lästert, der Koalitionspartner habe nun gleich mehrere Machtzentren.

Suchbild mit Saleh: Die neuen SPD-Chef:innen Böcker-Giannini und Hikel mit ihren Vor­gän­ge­r:in­nen Saleh und Giffey (v.l.n.r.) Foto: Stefan Boness/Ipon

Berlin taz | Raed Saleh will nicht zurückschauen. „Nach jedem Tal kommt ein Berg“, sagt der SPD-Fraktionschef an einem grauen Herbsttag in seinem riesigen Arbeitszimmer im dritten Stock des Abgeordnetenhauses. Eine weiße Ledersitzecke, ein leerer Besprechungstisch, ein penibel aufgeräumter Schreibtisch. Saleh steht seit Ende 2011 an der Spitze seiner Fraktion. Das ist sein Reich. Er sagt: „Hier im Parlament spielt die Musik.“ Und dass er seinen Job „leidenschaftlich gern“ mache, „weil ich sehr viel an sozialdemokratischen Inhalten umsetzen kann“.

Saleh betont häufig, worauf er alles stolz ist – um dann zu betonen, dass er das Wort „stolz“ nicht häufig benutze. Stolz ist er vor allem auf die von „seiner“ SPD vor Jahren durchgesetzten kostenlosen Angebote im Kita- und Schulbereich, die er in der jüngsten 3-Milliarden-Sparrunde der schwarz-roten Koalition gegen alle Widerstände verteidigt habe.

Und stolz ist er auch auf die „vielen Beschlüsse im Mietenbereich“ oder die Einigung mit der CDU auf das Wahlalter 16. „Wir haben fünf Ressorts, in denen wir gestalten können, und eine Fraktion, die als Regierungsfraktion dazu beiträgt, dass gute Gesetze beschlossen werden.“ Hört man Saleh zu, gewinnt man das Gefühl: Da sitzt einer, der ist rundum zufrieden damit, wie es ist.

Zur Erinnerung: Es ist nur ein halbes Jahr her, da hieß es in seiner eigenen Partei, Saleh müsse nach über 12 Jahren im Amt endlich abtreten. Der Mann sei Geschichte, das „System Saleh“ am Ende. Vorausgegangen war Salehs verlorener Kampf um die Parteispitze gegen zwei konkurrierende Duos.

Die Basis sah es anders

2020 war der Spandauer auch noch Vorsitzender des SPD-Landesverbands neben Franziska Giffey geworden – und meinte, das unbedingt bleiben zu müssen. Die SPD-Basis sah das etwas anders. Am Ende sprachen sich bei einer Mitgliederbefragung nur 1.300 der gut 18.000 Berliner So­zi­al­de­mo­kra­t:in­nen dafür aus, dass Saleh im Amt bleibt.

Sowohl der Regierenden Bürgermeisterin und nachmaligen Wirtschaftssenatorin Giffey als auch Saleh wurde das schlechte Abschneiden der SPD bei der Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus 2023 angelastet. Intern dominierten erbitterte Grabenkämpfe zwischen Parteilinken und -rechten und dem Lager um Saleh, das dazwischen lavierte. Kurzum: Die Stimmung war mies.

Giffey hatte dann auch von sich aus erklärt, beim Parteitag im Mai dieses Jahres nicht mehr als Landeschefin anzutreten. Für Saleh kam das nicht infrage – mit dem bekannten Ergebnis. „Er hatte einfach Angst, Macht abgeben zu müssen“, sagt ein Saleh-Kritiker.

Das Rennen um den Parteivorsitz machten letztlich Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel und die Berliner Ex-Sportstaatssekretärin Nicola Böcker-Giannini, die dem rechten Flügel zugerechnet werden. Saleh dagegen taumelte, seine Zukunft an der Spitze der SPD-Fraktion wurde nun gleich mit zur Disposition gestellt. So erklärte Hikel, angesichts des Votums der Parteimitglieder würden ja auch die Abgeordneten „nicht ignorieren, dass es den Willen zu einem Neustart gibt“.

Showdown auf offener Bühne

Allein, eine klare Mehrheit der SPD-Abgeordneten im Landesparlament ignorierte sehr wohl. In einer Kampfabstimmung um den Fraktionsvorsitz setzte sich Saleh mit 25 zu 8 Stimmen gegen den von seinen linken Kri­ti­ke­r:in­nen aufgestellten Kandidaten Matthias Kollatz durch. „Ich bin sehr stolz auf meine Fraktion, eine sehr starke Fraktion“, sagte Saleh nach der Entscheidung.

Seit diesem Showdown auf offener Bühne herrscht in der Landes-SPD eine Art Burgfrieden zwischen Linken, Rechten und Saleh-Vertrauten. Auch Martin Hikel, der im Mai in einem Interview zur Empörung des folgenden Parteitags festgestellt hatte, die Partei sei „inhaltlich ziemlich tot“, gibt sich heute moderater im Ton. Er glaube, „dass einige Formulierungen von damals falsch verstanden wurden“, sagt Hikel. „Die Aussage bezog sich nicht auf fehlende Inhalte, sondern auf die Beliebigkeit einiger Inhalte aufgrund mangelnder Orientierung.“

SPD Berlin im Umfragekeller

Absturz Wäre am Sonntag Abgeordnetenhauswahl, käme die SPD auf nur 12 Prozent. Das ist das Ergebnis einer am Mittwoch veröffentlichten Umfrage von Infratest Dimap im Auftrag des RBB. Zum Vergleich: Bei der Wiederholungswahl zum Berliner Landesparlament Anfang 2023 kam die SPD auf 18,4 Prozent – das schlechteste Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte der Partei. Ein Wert von 12 Prozent ist wiederum der absolute Tiefpunkt für die Hauptstadt-SPD in den auf wahlrecht.de aufgelisteten Meinungsumfragen der vergangenen 25 Jahre.

Konkurrenz Der aktuellen Umfrage zufolge liegt die CDU mit 27 Prozent an der Spitze (2023: 28,2 Prozent), gefolgt von den Grünen mit 20 Prozent (2023: 18,4 Prozent). Die AfD kommt mit 15 Prozent (2023: 9,1 Prozent) auf bessere Werte als die SPD. Die Anfang des Jahres gegründete Wagenknecht-Partei BSW würde aus dem Stand bei 7 Prozent landen, die Linke auf 6 Prozent abstürzen (2023: 12,2 Prozent).

Unzufriedenheit Die Arbeit des schwarz-roten Senats wird in der RBB-Umfrage vor allem negativ bewertet. Demnach sind 69 Prozent der Befragten weniger oder gar nicht zufrieden mit der Performance von CDU und SPD, nur 27 Prozent sagten, sie seien zufrieden oder sehr zufrieden. Das immerhin ist für Berlin seit langem nicht untypisch: Mit dem rot-grün-roten Giffey-Senat waren in einer Umfrage kurz vor dessen Ende im Februar 2023 auch nur 24 Prozent zufrieden, 74 Prozent dagegen unzufrieden. (rru)

Auffällig ist: Der nach der Wahl von Hikel und Böcker-Giannini vorhergesagte „Rechtsruck“ der SPD ist bislang ausgeblieben. Etliche Beschlüsse des neuen Landesvorstands, etwa zur Haushalts- und Migrationspolitik, tragen eine dezidiert „linke“ Handschrift. Hikel und Böcker-Giannini selbst lehnen die Etikettierung als „rechts“ ab. Also alles nur ein Missverständnis?

„Die Frage zeigt doch sehr gut, wie sehr dieses Schema bereits aus der Zeit gefallen ist“, sagt Nicola Böcker-Giannini zur Rechts-links-Debatte. Ihr und Martin Hikel sei es ein Anliegen, „eine sozialdemokratische Politik zu machen, die die Mitte der Gesellschaft adressiert“. Schließlich stehe Berlin vor besonderen Herausforderungen, die es zu lösen gelte. „Und die Berlinerinnen und Berliner erwarten darauf zu Recht Antworten, die in der Realität des Alltags funktionieren.“

Debatte ums Gratis-Mittagessen

Ganz so einfach ist es nicht. Denn selbstverständlich gibt es weiter die Parteilinken und die Vertrauten von Fraktionschef Saleh – und beide zusammen stellen die Mehrheit im geschäftsführenden Landesvorstand. Exemplarisch zu beobachten war das Ungleichgewicht bei dem von den neuen Parteivorsitzenden gestarteten Großangriff auf das Gratis-Mittagessen für alle Grund­schü­le­r:in­nen, ein Projekt, das sowohl Saleh als auch das linke Lager verteidigen. Der Vorstand kassierte den Vorstoß der Che­f:in­nen im Sommer dann auch umgehend wieder ein.

Nicht anders sieht es bei den Ver­tre­te­r:in­nen der SPD in der Landesregierung aus. Auch hier ist das Rechts-links-Schema keineswegs „aus der Zeit gefallen“. So gilt etwa Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe als Parteilinke, Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey als Rechte. Der Beziehungsstatus der beiden sei kompliziert, wird kolportiert.

Beim Koalitionspartner CDU wird auch deshalb immer wieder gelästert, dass man nicht genau wisse, wer denn nun eigentlich die SPD führt. Dass es mindestens drei Machtzentren in der Partei gebe: erstens den selbstbewussten Fraktionschef Saleh und seinen engsten Vertrauten, den Haushaltspolitiker Torsten Schneider, zweitens die Senator:innen, die sich gegenseitig das Leben schwer machten, und schließlich drittens die „pragmatischen“ Landesvorsitzenden Hikel und Böcker-Giannini, die ungünstigerweise von „Linken“ eingerahmt seien. In genau dieser Reihenfolge: Fraktion, Senat, Partei.

Hikel und Böcker-Giannini geben sich davon nach außen herzlich unbeeindruckt. „In der SPD haben wir viele starke Stimmen und Köpfe für die Themen und Inhalte der Berliner Sozialdemokratie – darauf sind wir stolz“, sagt Böcker-Giannini. Eine „breite Aufstellung der Ver­ant­wor­tungs­trä­ge­r:in­nen innerhalb der SPD Berlin“ sei „daher eine unserer großen Stärken – an der Spitze der Partei, in der Fraktionsführung und im Senat“. So kann man es auch formulieren.

Saleh hat in Berlin „noch eine Menge vor“

Die neuen Landesvorsitzenden sind bemüht, den rechten und den linken Flügel per Sacharbeit zusammenzubringen. Auch der von Hikel und Böcker-Giannini im September gestartete parteiinterne „Zukunftsprozess Berlin 2035“ muss in diesem Zusammenhang gesehen werden: Bis Mitte kommenden Jahres sollen sich Parteimitglieder und Ver­tre­te­r:in­nen der Stadtgesellschaft in sechs „Zukunftswerkstätten“ zu bestimmten Schwerpunkten einbringen. Die Ergebnisse der Diskussionen sollen dann teilweise in das Programm für die Abgeordnetenhauswahl 2026 einfließen.

Hikel sagt: „In unserer Partei und den rund 18.000 Mitgliedern stecken jede Menge Ideen und Expertise – die wollen wir nutzen und so gemeinsam ein Konzept entwickelt.“ Es gehe darum, „offen und ohne Denkverbote in diesen Prozess zu gehen“ und dabei alle einzubinden.

Der Ansatz kommt nach dem vorangegangenen Top-down-Politikansatz von Giffey und Saleh gut an in der Partei. „Natürlich ist der Prozess Berlin 2035 vor allem eine Reaktion darauf, was wir für ein Bild abgeben. Der inhaltliche Ansatz von Raed Saleh mit der gebührenfreien Bildung hat bei den Wählern ebenso wenig gezogen wie Franziska Giffey als Person. Daher ist der Strategieprozess erst mal gut“, sagt ein Kritiker der Par­tei­che­f:in­nen vom linken Parteiflügel. Die Frage sei, was daraus folge. Bestimmen zuletzt doch Hikel und Böcker-Giannini, welche der vielen Ideen passend gemacht und zu den neuen „Leitlinien“ der Partei erklärt werden? Ausgang offen.

Wenn sich die Berliner SPD an diesem Samstag zum Parteitag trifft – dem ersten seit der Wahl der neuen Landesvorsitzenden –, soll es vornehmlich um andere Dinge gehen. Die Parteitags­choreografie will sich aus gegebenem Anlass auf den Bundestagswahlkampf konzentrieren, auf die innerparteilich wenig umstrittenen Themen Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Motto: Bloß keine Konflikte.

Raed Saleh wird da sein. Selbstverständlich. „Ich bringe mich natürlich überall ein, was meine Partei betrifft“, sagt er. Nach seiner Niederlage um den Parteivorsitz hielt sich kurz das Gerücht, er liebäugele damit, in die Bundespolitik zu wechseln. Saleh dementierte. Und er dementiert auch jetzt, wo sich angesichts der Neuwahlen die Frage ganz konkret stellt: „Eine Kandidatur für den Bundestag schließe ich aus. Mein Platz ist klar in Berlin. Ich habe in Berlin noch eine Menge vor.“ Manche in der Partei begreifen das vermutlich als Drohung.

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1 Kommentar

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  • Die Wahrnehmung von Politikern und den Zuständen in Berlin ist von jedem Betrachter unterschiedlich. Giffey und Saleh sind mit verantwortlich, daß es Unzufriedenheit und Unruhe wegen der Kürzungen in verschiedenen Bereichen gibt.



    Die Koalition eingegangen mit der CDU sollte offensichtlich den "Machterhalt von (älteren) Senats- und Bezirkspolitikern" sichern.



    Übersehen wurden die teils fehlenden Fachkenntnisse und mangelnde Bereitschaft für Kompromisse.