S21-Wasserwerferprozess in Stuttgart: Sprühstoß musste Wirkung erzielen
Wer hatte Schuld an der Eskalation des Polizeieinsatzes im Schlossgarten: der Staatsanwalt, der Einsatzleiter oder der Führungsstab der Polizei?
STUTTGART taz | Das Foto von Dietrich Wagner mit seinen blutenden Augen hat nach dem Wasserwerfereinsatz im Stuttgarter Schlossgarten das ganze Land schockiert. Die Polizei hielt es zunächst für eine Fälschung. Das berichtete der ehemalige Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler, gestern als Zeuge im Wasserwerferprozess vor dem Landgericht.
So eine Verletzung habe bei der Stuttgarter Polizei bis dahin niemand gesehen. Als Nebenkläger sitzt der nahezu blinde Wagner im Raum. Er lacht und schüttelt den Kopf.
Häußler, älterer Herr, inzwischen im Ruhestand, ist Reizfigur der S-21-Gegner. Er war als Abteilungsleiter bei der Staatsanwaltschaft für Ermittlungen gegen Polizeibeamte zuständig, die zum Teil eingestellt wurden. Im Gerichtssaal schiebt er die Schuld am Misslingen des Polizeieinsatzes auf die beiden angeklagten Einsatzabschnittsleiter. Ihnen wird fahrlässige Körperverletzung im Amt vorgeworfen. Sie wiesen die Schuld aber dem Führungsstab der Polizei zu.
Am 30. September 2010 kam es im Stuttgarter Schlossgarten zu einem großen Polizeieinsatz, um den Park für S-21-Baumfällarbeiten abzusperren. Über 1.000 Demonstranten versuchten, dies zu verhindern. Die Polizei setzte Schlagstöcke, Pfefferspray und Wasserwerfer ein. 130 Demonstranten und 34 Polizisten wurden nach offizieller Zählung des Innenministeriums verletzt.
Erlaubnis ist keine Anordnung
Häußler hat den Einsatztag an der Seite des ehemaligen Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf verbracht – vorsorglich, falls es zu strafprozessualen Maßnahmen kommen sollte, etwa ein Haftbefehl nötig würde. Seiner Beobachtung nach habe die Polizeiführung viel zu spät erfahren, dass der Einsatz aus dem Ruder lief. Häußler belastet damit einen der angeklagten Polizisten, der am Funkgerät saß. „Melden ist eine Bringschuld. Wenn man nichts hört, glaubt man, es läuft alles.“
Häußler legt auch die „Freigabe des unmittelbaren Zwangs“ zu Lasten der angeklagten Beamten aus. Die Polizeiführung habe zwar erlaubt, Schlagstock, Wasserwerfer und Pfefferspray einzusetzen, das sei aber keine Anordnung. „Es ist Sache der Polizeiführungskräfte vor Ort, zu entscheiden, in welchem Fall und welcher Intensität das sinnvoll ist.“ Damit schiebt er die Verantwortung wieder der untersten Führungsebene zu.
Ein andere Aussage von ihm lässt aber den gegenteiligen Schluss zu: Stumpf habe auf die Funkmeldung, dass der Wasserwerfer „sprühe“, geantwortet: „Der soll auch Wirkung erzielen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja