piwik no script img

Russlands Krieg in der UkraineEin schriller Weckruf

Kommentar von Barbara Oertel

Nach dem Einschlag in Polen konnte die Eskalation abgewendet werden. Doch die Nato sollte vorbereitet sein, wenn erneut Raketen in ihrem Gebiet landen.

In Alarmbereitschaft: polnische Soldaten im Grenzgebiet zur Ukraine Foto: Kacper Pempel/reuters

R usslands Angriffskrieg gegen die Ukrai­ne ist nicht unser Krieg, heißt es immer mal wieder. Von wegen. Genau das ist er, seit dieser Woche mehr denn je. Am Dienstag schlugen in einem polnischen Dorf zwei Raketen ein, die zwei Menschen töteten. Damit ist zum ersten Mal ein Mitgliedsstaat der Nato betroffen – ein Szenario, das nicht nur im Weißen Haus, sondern auch in den Ländern nahe der Grenze zu Russland durchgespielt worden sein dürfte.

Derzeit kann nur spekuliert werden: Wer hat den Knopf gedrückt und mit welcher Intention? Oder handelte es sich nur um einen Irrläufer – mit für die Opfer tragischen Folgen. Zur Aufklärung können, wenn überhaupt, nur Ex­per­t*in­nen beitragen, wobei von Russland kein aktives Mittun zu erwarten ist. Jedoch: In den fast neun Monaten, die dieser Krieg in der Ukraine mittlerweile tobt, haben wir gelernt, dass nichts unmöglich ist.

Doch trotz aller Fragezeichen: Dieser jüngste Vorfall ist ein schriller Weckruf und er muss jetzt Konsequenzen haben. Diese ergeben sich aus der bisherigen Dynamik des Krieges, die mehrfach überraschende Wendungen genommen hat. Tatsache ist: Russlands Strategie, um den Nachbarn militärisch in die Knie zu zwingen, ist – sollte es sie jenseits von Zerstörung und Vernichtung überhaupt gegeben haben – grandios gescheitert.

Die Rückeroberung der Stadt Cherson durch ukrainische Truppen ist nur einer, wenn auch der schlagendste Beweis dafür. Auch Moskaus Drohung mit taktischen Atomwaffen zeigt nicht den gewünschten Erfolg. Jetzt folgt etwas, das wie eine Verzweiflungstat anmutet: Ein massiver, flächendeckender und gezielter Beschuss von für die Energieversorgung relevanten Objekten, verknüpft mit dem Bemühen, zu Verhandlungen zu kommen.

Den Zusammenhang stellte dankenswerterweise Kreml-Sprecher Dmitri Peskow selbst her. Dass die Ukrai­ne­r*in­nen im Dunkeln und Kalten sitzen, sei Schuld ihrer Regierung, die sich Gesprächen verweigere. Klarer geht es nicht. Was folgt daraus? Derzeit kreist die Debatte in Deutschland vor allem um die hohe Inflation und die exorbitanten Energiepreise sowie die Frage, ob die Zahlen Geflüchteter ansteigen. Das greift zu kurz, denn die Einschläge waren möglicherweise nicht die letzten.

Russlands zielt darauf, die westlichen Staaten zu spalten. Deshalb bleibt es wichtig, sich nicht auseinanderdividieren zu lassen und standhaft zu bleiben, auch an der Seite Kyjiws. Und schließlich: Sollte eine russische Rakete gezielt auf Polen abgefeuert worden sein, stellt sich Frage, ob die Nato bereit ist, wirklich jeden Zentimeter ihres Territoriums zu verteidigen. Die Bündnispartner sollten sich ihre Antwort schon mal zurechtlegen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • PM: Ukraine has received over $23 billion in financial aid since Feb. 24.



    kyivindependent.co...l-aid-since-feb-24



    Da muss sich also der Regierungschef eines sich und uns verteidigenden europäischen Landes NACH 9 MONATEN dafür bedanken, dass der Westen ihm tatsächlich und pöapö n paar Brosamen hingeworfen hat.



    Wenn nicht aus höherer Einsicht in menschlichen Anstand, dann doch vielleicht aus höherer Einsicht in pures Eigeninteresse hätte die westliche Reaktion völlig anders aussehen müssen, und k ö n n e n : _



    - Am 25. Zwooten zweitausenundzweiundzwanzig stehen auf einem Konto der Bundesbank (oder der EZB) 100 Milliarden Euro der ukrainischen Regierung zur freien Verfügung.



    - Zwooter Dritter 2022: Staatliche Garantien, was Umsatz und Margen betrifft (wie ja in der Rüstungsbeschaffung fast durchgängig üblich), erlauben es , binnen weniger Monate erhebliche Produktionskapazitäten freizumachen/aufzunauen, und zwar dann doch für 'etwas' mehr als 18 slowakische 'Zusannas', lieferbar irgendwann nächstes Jahr.



    - 1.4. 2022: Die ukrainischen Konsulate erhalten in jedem EU-Land, in GB, Norwegen, der Schweiz Geldmittel zur freien Verfügung, dazu landesweit Räume (z.B. in den Rathäusern) und Personal ... und können sich in jeder Stadt, jedem Landkreis um die Ukrainerinnen kümmern.



    Heute mühen sich mehrere Koordinationsstellen um die Versorgung (Stuttgart:NATO/USA) was militärische Ressourcen angeht, Brüssel z.B. betr. Reparaturen der Energie-Infrastruktur, aber das Geld kleckert gradmalso, und keine/r kann vernünftig vorausplanen.



    Dass es besser hätte laufen können: Illusion ? Dass schnelles Entscheiden durchaus möglich ist, zeigt der sofortige Beschluss über Status und Arbeitsmarktzugang der Ukrainerinnen in der EU.

  • Ist das wirklich so verzweifelt?

    Immerhin steckt ein Plan dahinter und es gibt immer wieder Leute die meinen, dass die Ukraine irgendwann unter der Last der Zerstörung zusammenbrechen wird.

    Ob das funktioniert, weiß ich nicht, aber nachdem klar ist, das Russland den Westen der Ukraine wohl nicht bekommen wird, gibt es aus russischer Sicht auch keinen Grund auf eine Zerstörung zu verzichten. Mir kommt das eher zynisch vor.