piwik no script img

Autor Lebedew über russische Opposition„Russland muss dekolonisiert werden“

Der russische Autor Sergej Lebedew lebt im Exil in Deutschland. Im Gespräch erklärt er, warum die russische Opposition ein schlechtes Bild abgibt.

Etwa jeder vierte Mensch in Russland ist kein ethnischer Russe, sagt Sergej Lebedew. Das Foto des Autors entstand 2021 in Berlin Foto: Doro Zinn

taz: Herr Lebedew, wenn man die jüngsten Gespräche zwischen den USA und Russland und das Telefonat zwischen Trump und Putin betrachtet: Welchen Plan verfolgt Putin?

Sergej Lebedew: Ich denke, er will diese „Verhandlungen“ auf eine ganz bestimmte Art und Weise scheitern lassen. Er will die USA und die Ukraine hinhalten, um irgendwann zu erklären, dass mit Selenskyj eben keine Einigung zu erzielen ist. Putin erklärt die ganze Zeit, dass die Ukraine bestimmte Bedingungen erfüllen soll, denen aber die Ukraine nie und nimmer zustimmen kann. Es ist eine Verzögerungstaktik.

Sergej Lebedew

43, ist russischer Schriftsteller, Journalist und studierter Geologe. Er hat sich in mehreren Romanen mit den Verbrechen der Stalinzeit und jenen des heutigen Russlands befasst. Unlängst hat er den Sammelband „Nein! Stimmen aus Russland gegen den Krieg“ (Rowohlt Verlag) herausgegeben. Er lebt seit 2018 in Potsdam.

taz: Wie würden Sie die letzten „Friedens“-Initiativen seitens der USA insgesamt bewerten?

Lebedew: Als einen Verrat an der Ukraine. Nicht nur an der Ukraine, auch an der Gerechtigkeit. Die Gespräche verliefen in den vergangenen Wochen so, als würden Verantwortung und Schuld auf beiden Seiten liegen, der russischen und der ukrainischen.

taz: Sie leben im Exil. Wenn wir heute über die russische Opposition im Exil sprechen, von wem reden wir dann? Von vereinzelten kleinen Zirkeln?

Lebedew: Ja. Eine geeinte Exilopposition existiert nicht. Einflussreich sind der Kreis um Michail Chodorkowski und die Leute aus dem Nawalny-Team. Beide sind aber nicht in der Lage, eine gemeinsame Agenda zu formulieren. Und beide sagen nicht klipp und klar, dass sie die Ukraine unterstützen. Julija Nawalnaja hat ausweichend reagiert, als sie nach den westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine gefragt wurde. Nawalny selbst erwähnte den Krieg gegen die Ukraine sehr selten, er konzentrierte sich auf die innerrussische Korruption. Ich denke, nur der Zirkel um Garri Kasparow befürwortet die westlichen Militärhilfen für die Ukraine ohne Wenn und Aber.

taz: Was ist mit jenen Oppositionellen, die im Zuge des Gefangenenaustauschs im Sommer 2024 freigekommen sind?

Lebedew: Dazu muss man sagen, dass Deutschland bekanntlich im Gegenzug Wadim Krassikow freigelassen hat; jemanden, der auf deutschem Territorium gemordet hat. Meines Wissens hat sich keine der Personen, die freigelassen wurden, jemals öffentlich an die Familie des Opfers gewandt und sich entschuldigt. Die Verwandten bleiben mit dieser Ungerechtigkeit zurück. Wir brauchen aber dringend diese Form der moralischen Klarheit. Da haben wir ein riesiges Defizit.

taz: Stützen all die Oppositionellen wie Wladimir Kara-Mursa, Ilja Jaschin und Julija Nawalnaja imperiale und koloniale russische Narrative?

Lebedew: Nicht aktiv. Ich glaube, sie kümmern sich einfach nicht allzu sehr darum. Sie konzentrieren sich ausschließlich auf Rus­s*in­nen in Russland. Antikoloniale oder antiimperialistische Initiativen betrachten sie wohl auch als potenziell gefährlich, weil Putin diese als Schreckgespenst an die Wand malt und man die russische Gesellschaft nicht überfordern dürfe. Mit den ethnischen Minderheiten gibt es auch keinen echten Dialog. Sie sind also in gewisser Weise politisch pragmatisch und wollen keine potenziellen Wäh­le­r*in­nen abschrecken. Was sie sicher nicht wollen: eine vielfältige und inklusive Gesellschaft aufbauen. Was sie alle eint: Sie haben keine politische Vision für Russland.

taz: Das Nawalny-Team hat sehr viele Anhänger*innen.

Lebedew: In Europa sicher nicht! Schauen Sie sich doch an, wie viele Menschen zum Beispiel die iranische Opposition regelmäßig in europäischen Städten auf die Straße bringt. Dagegen ist die russische Opposition leider ein Witz.

taz: Worin sehen Sie die Aufgabe der russischen Exilopposition?

Lebedew: Wir sollten schon jetzt da­rauf hinarbeiten, dass das Putin-Regime und die Mit­tä­te­r*in­nen eines Tages bestraft werden. Wir dürfen nicht den Fehler der Post-Perestroika-Zeit wiederholen: Die Anstrengung der Zivilgesellschaft war am Gedenken und nicht an der Wiederherstellung der Gerechtigkeit ausgerichtet. Es muss um Gerechtigkeit für die Ukraine gehen. Wir werden in Russland eine riesige Gruppe von Menschen vorfinden, die direkt oder indirekt am Krieg beteiligt waren: Soldat*innen, Transportarbeiter*innen, Verwaltungsangestellte. Alle werden jede Verantwortung ablehnen. Sie werden behaupten, dass es ein gerechter Krieg war, den es zu führen galt.

taz: Es bräuchte weitreichende Gerichtsverfahren, jahrzehntelange juristische Ausdauer wie nach der NS-Zeit?

Lebedew: Ich hoffe, es wird ein internationales Tribunal geben. Wir werden sehen, wie realistisch das ist.

taz: In einer Welt, in der die Imperialmächte wieder aufleben, scheint Gerechtigkeit für die Ukraine ein hehres und weit entferntes Ziel.

Lebedew: Das stimmt. Einfacher ist es, sich vorzustellen, dass es nach Kriegsende einen Friedensvertrag geben wird und einige Sanktionen aufgehoben werden. Denkbar ist, dass russische Kriegsverbrecher dann wieder unbehelligt durch die Welt reisen. Das darf nicht passieren. Das Signal sollte sein: Ihr seid nicht willkommen, über Jahre hinweg. Dafür sollte die russische Opposition sich einsetzen. Aber sie wird das nicht tun, denn man gilt schon als Verräter*in, wenn man als rus­si­sche*r Staats­bür­ge­r*in die Sanktionen unterstützt.

taz: Sie haben kürzlich den Sammelband „Nein! Stimmen aus Russland gegen den Krieg“ veröffentlicht. 25 russische und belarussische Au­to­r:in­nen sind beteiligt. Wie viele davon leben noch in Russland?

Lebedew: Drei. Einige sind früher gegangen, wie ich oder Nikolai Kononow. Andere, wie Jegana Dschabbarowa, sind erst 2023 gegangen. Wir alle haben verschiedene Phasen erlebt, wie sich dieser autoritäre Staat entwickelt hat.

taz: Es gibt einige kafkaeske und orwellsche Erzählungen im Band. Kann man über Russland im Inneren nur auf absurde Art und Weise schreiben?

Lebedew: Das würde ich nicht sagen. Es finden sich ja auch einige realistische Geschichten in der Anthologie. Sie sind von großer Bedeutung. Denn sich völlig ins Reich der Fiktion und Fantasie zu begeben, ist einfacher, als das Geschehen in Russland realistisch darzustellen. Es gibt aber nun mal diese nackte Realität der Gewalt: Dis­si­den­t*in­nen werden weggesperrt und gequält, ukrainische Kriegsgefangene werden in russischen Gefängnissen schwer gefoltert. Sich dieser Gewalt direkt zu stellen und sie so zu beschreiben, ist sehr schwierig. Wenn man aber die Propaganda entlarven will, kann auch absurde Fiktion das richtige Mittel sein.

taz: Was wollen Sie mit der Anthologie erreichen?

Lebedew: Sie soll ein Anfang sein. Wir haben jetzt eine Gemeinschaft von Autor*innen, die untereinander im Austausch stehen. Das muss fortgesetzt werden. Ein Vorbild ist für mich die Gruppe 47, die nach der NS-Zeit nach neuen Formen der Literatur und der Verständigung suchte.

taz: Die Gruppe 47 formierte sich zwei Jahre nach dem Ende des NS-Regimes. Haben wir nicht jetzt eine völlig andere Situation?

Lebedew: Ja, aber wir können nicht warten. So nach dem Motto: Okay, jemand anderes wird Putins Regime beenden. Wir haben hier ein totalitäres Regime, das über nukleare Waffen verfügt. Solange es militärisch nicht möglich ist, Russland zu besiegen, muss man alle anderen Anstrengungen unternehmen, mögen sie noch so aussichtslos erscheinen. In diesem Sinne können wir auch Kultur und Literatur einsetzen. Wir 25 Autoren sind ein kleiner Teil der russischen Literaturszene, wir müssen uns auch gegen jene klassische russische Kultur stellen, die die imperiale Erzählung stützt. Puschkin und Tolstoi sind vom Regime sehr einfach zu instrumentalisieren, weil ihren Werken das Großrussische inhärent ist. Unsere eigentliche Aufgabe besteht darin, das imperiale Wesen in uns selbst zu erkennen und zu versuchen, es zu töten.

taz: Die politische und die kulturelle Sphäre Russlands scheinen völlig getrennt voneinander zu existieren. Kann ein Intellektuellenzirkel überhaupt etwas ausrichten?

Lebedew: Man spricht nicht umsonst von „politischer Kultur“. Eine zivilisierte politische Kultur in Russland existiert nicht. Politik und Kultur gehören zusammen; die Fähigkeit, andere zu sehen, anzuerkennen und zu integrieren, ist die Aufgabe der Kultur eines Landes. Alle Politik leitet sich davon ab.

taz: Wie sieht Ihre Vision einer politischen Kultur in Russland aus?

Lebedew: Russland muss dekolonisiert werden. Etwa jeder vierte Mensch in Russland ist kein ethnischer Russe, es gibt zahlreiche Minderheiten, Awaren, Tataren, Burjaten, Darginer, Udmurten und so weiter. Nichtrussische Russen müssten mit einer Stimme sprechen, denn es ist nicht nur die Ukraine, die jahrhundertelang unterdrückt wurde. Es geht nicht nur darum, dass die Minderheiten aufbegehren und protestieren – was derzeit schwer möglich ist –, sondern auch um einen langen Prozess des Umdenkens in Bezug auf die Geschichte und die Identitäten der in Russland lebenden Menschen.

taz: Stehen Sie in Kontakt mit ukrainischen Intellektuellen?

Lebedew: Ja.

taz: Wie verläuft dieser Austausch?

Lebedew: Der findet auf persönlicher Basis statt. Wir sollten die persönlichen Beziehungen aufrechterhalten, das ist wichtig. Ich kann aber jeden ukrainischen Autor verstehen, der nicht öffentlich mit einem russischen Autor auftreten will. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für Kulturdiplomatie. Irgendwann wird diese Zeit vielleicht kommen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!