Russland entscheidet über EGMR: Rückzug aus dem Rechtsraum
Russland hat beschlossen, dass Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bindend seien. Allerdings gibt es Ausnahmen.
Der Vorrang des russischen Verfassungsrechts verpflichte Russland in so einem Fall, „die Entscheidung des Straßburger Gerichts nicht dem Buchstaben nach zu befolgen“, teilte das Verfassungsgericht auf seiner Website mit. Weder die Menschenrechtskonvention noch die Position des Straßburger Gerichts heben für „das russische Rechtssystem den Vorrang der Verfassung auf“.
Die Entscheidung kam nicht überraschend. Seit Längerem wird in Russland darüber nachgedacht, ob es angesichts der wachsenden Dissonanzen mit dem Westen noch Sinn mache, sich der europäischen Jurisdiktion zu unterstellen.
Viele Beobachter werteten den Spruch des Gerichts als die Einleitung eines Rückzugs aus dem europäischen Rechtsraum. Noch allerdings spricht das Verfassungsgericht von „außergewöhnlichen Fällen“, in denen die russische Bürokratie von Auflagen entbunden werden soll.
Das Wirtschaftsblatt Wedomosti sieht in der Entscheidung dennoch ein „unangenehmes Signal“. Das Recht sei im Interesse aktueller politischer Aufgaben endgültig instrumentalisiert worden.
Die Entscheidung passt jedoch zur hyperpatriotischen Atmosphäre und dem Heraufbeschwören feindlicher Umzingelung vonseiten des Kreml. In diesem Denkmodel läuft die bedingte Preisgabe von Souveränität nationalen Sicherheitsinteressen zuwider. Auch das war ein Motiv der alarmierten Abgeordneten, die vermutlich erst auf Zuruf der russischen Leitzentrale tätig wurden.
Dem EGMR ist der russischen Regierung ein Dorn im Auge
Eigentlicher Aufhänger für den Antrag dürfte die Entscheidung des EGMR vor einem Jahr gewesen sein, die Aktionären des zerschlagenen Ölkonzerns Yukos Zahlungen von zwei Milliarden Euro zugesprochen hatte. Der Kreml verwahrt sich gegen eine Zahlung. Würde er Folge leisten, wäre das ein Eingeständnis, dass die Aktionäre enteignet und der Konzern zerschlagen wurde.
Unmittelbar nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts teilte das Justizministerium mit, Russland werde nun eine Antwort auf das Yukos-Urteil vom Juli 2014 formulieren.
Grundsätzlich ist der EGMR den russischen Machthabern ein Dorn im Auge. Bis 2014 wandten sich fast 130.000 russische Bürger angesichts der massiven Schwächen des russischen Rechtssystems an den Gerichtshof. Von 1.600 angenommenen Klagen wurden 1.500 zugunsten der Kläger gegen Russland entschieden. Für viele Russen ist Straßburg die letzte Hoffnung auf ein gerechtes Verfahren. Russland stellt auch die meisten Kläger beim EGMR. Daher ruft der Gerichtshof bei russischen Behörden ein weit verbreitetes Unbehagen hervor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“