piwik no script img

Russischer Autor Vertlib„Das Trauma der Diktatur“

Der Leningrader Vladimir Vertlib spricht über seinen Roman „Zebra im Krieg“, Verheerungen der Stalinzeit und den Konflikt Russlands mit der Ukraine.

Aufgewachsen in einer Diktatur, entwickeln sich viele zu Menschen ohne Grundvertrauen in die Welt Foto: Brendan Hoffmann/NYT/Redux/laif
Ralf Leonhard
Interview von Ralf Leonhard

taz: Herr Vertlib, in Ihrem neuen Roman „Zebra im Krieg“ geht es um einen Blogger, der von einer siegreichen Bürgerkriegspartei vor laufender Kamera gedemütigt wird. Das Video wird ins Netz gestellt und löst eine Serie verhängnisvoller Ereignisse aus. Ihr Stoff beruht auf einer wahren Geschichte, scheint aber stark verfremdet?

Vladimir Vertlib: Die Szene mit dem Video beruht auf Tatsachen. Sie hat sich vor einigen Jahren in der Ukraine zugetragen. In meinem Roman habe ich die Stadt allerdings ans Meer verlegt. Ich hatte ein bisschen Odessa im Kopf, es könnte aber auch Mariupol, Sewastopol oder Sotschi sein. Ich habe es bewusst offen gelassen. Ich wollte kein Schlüsselbuch über den Ukraine-Konflikt oder das System Putin schreiben. Vielmehr handelt es sich um einen exemplarischen Fall für die Verhältnisse an der Peripherie Europas. In ihm spiegeln sich Dinge aus unseren Gesellschaften und der Gegenwart. Die Handlung ist jedoch fiktiv und in eine exemplarische, nicht näher genannte Hafenstadt verlegt.

An der ukrainischen Grenze sind massiv russische Truppen aufmarschiert. Alle Welt spricht von einem bewaffneten Konflikt. Ist Ihr Roman als Kritik an kriegerischer Gewalt zu verstehen, oder hatten Sie als gebürtiger Russe eher allgemein die postsowjetische Welt vor Augen?

Der Roman hat beide Elemente: Einerseits eine Kritik an kriegerischen Auseinandersetzungen. An dem, wie arme Länder an der Peripherie der „Ersten Welt“ zu einem Spielball der Großmächte und der eigenen Eliten werden. Die Handlung könnte genauso gut in Mexiko, Syrien oder Weißrussland spielen. Es ist ein exemplarischer Fall. Gleichzeitig handelt es sich auf einer zweiten Ebene um einen Roman, der die Situa­tion in Ost-Mitteleuropa oder im postsowjetischen Raum widerspiegelt. Es gibt viele Facetten, die Anhaltspunkte bieten, in welcher Region man sich befindet: Ein mächtiger, vor siebzig Jahren verstorbener Diktator, der im Roman erwähnt wird, die Amtsgebäude, erbaut im Zuckerbäckerstil. Es ist wohl klar, dass wahrscheinlich Stalin gemeint ist.

Die Geschichte beruht ja, wie es heißt, auf einer wahren Begebenheit. Wie sind Sie auf diese gestoßen?

Durch Zufall. Ich habe mich 2014/15 viel mit der Ukraine-Krise und dem Konflikt zwischen Russen und Ukrainern beschäftigt. In den Netzwerken, auf Youtube, bekämpften einander Leute, die Russisch oder Ukrainisch können. Das geht weit über die Krisenregion hinaus. Es findet auch in den USA, in Kasachstan, bei uns, in Deutschland und anderenorts statt. Es gibt eine Fortsetzung des Krieges im Internet. Für mich ist es spannend, aber auch beängstigend und schockierend zu erkennen, welche Bedeutung das Internet hat. Verglichen mit dem, was man dort lesen kann, ist das, was wir heute in West­europa an Verschwörungstheorien rund um die Coronakrise erleben, harmlos. Was in Netzen auf Russisch geschrieben steht, hat eine andere Dimension.

Wie meinen Sie das?

Ich habe viel mitgelesen, ohne mich an den harten Disputen zu beteiligen. Ich blieb Beobachter. Ich komme aus Russland, bin aber weder ein Anhänger des Putin-Regimes noch der Separatisten auf der Krim. Doch auch die ukrainischen Machthaber beurteile ich kritisch. Im Zuge meiner Recherchen bin ich zufällig auf das eingangs erwähnte reale Video gestoßen. Die über tausend Kommentare dazu waren besonders furchtbar. Einiges davon habe ich verfremdet und sinngemäß wiedergegeben. Ich dachte gleich, da mache ich etwas Literarisches daraus. Es ist ein exemplarischer Fall, das Ganze wirkt fast wie ein Dramolett. Es ist ja eine inszenierte Geschichte gewesen, in der einer der Gefilmten allerdings sehr real Angst hatte.

Ihr Protagonist im Roman, Paul, der den Rebellenführer Lupowitsch mit rüden Worten auf Facebook beflegelt, ist also für russische Verhältnisse gar kein extremer Hassposter?

Nein. Auch im realen Fall waren diese Angriffe, im Vergleich zu dem, was ich sonst so gelesen habe, vergleichsweise milde. Mein Roman ist eine Kritik an den sozialen Medien, das war aber nicht zielgerichtet meine Absicht, als ich begann, das Buch zu schreiben. Meine Beobachtungen haben mich zu der Geschichte geführt. Später, beim Redigieren, ist mir erst klar geworden, wie viele Facetten es hat. Ich nehme mit Sorge wahr, wie uns die sozialen Medien korrumpieren, süchtig machen, unsere schlechten Charaktereigenschaften verstärken. Wenn man Gesprächspartner nur noch als Profile oder Fotografien und nicht als reale Menschen wahrnimmt, kann das sehr schnell zu Enthemmung führen. Zu Dynamiken, die Konflikte und Polarisierungen verschärfen. Das kann man nicht nur in Osteuropa beobachten, das passiert auch im Westen.

Dabei drehen Meinungen und gesellschaftlichen Stimmungen mitunter sehr schnell …

Das kann man überall auf der Welt beobachten. Etwa wenn man nachliest, was vor, während und nach der NS-Zeit passiert ist: Viele Leute waren Anhänger der Monarchie, dann ein wenig der Republik, dann wurden viele zu Nazis und schließlich nach 1945 ganz schnell zu standhaften Demokraten. Die heutigen Gesellschaften in Ost- und Ost-Mitteleuropa sind als Folge von lange andauernden Diktaturen autoritär geprägt, die Menschen sind oft sehr misstrauisch und wankelmütig. Sie hängen häufig ihr Fähnchen schnell in den Wind, marschieren mit den jeweiligen Machthabern mit, ohne genau zu wissen, wohin. Das Trauma der Diktatur steckt tief in all diesen Gesellschaften drin. Auch bei den Kindern, den Nachgeborenen, auch bei mir. Warum haben viele Leute 2014 auf der Krim gedacht, sie würden alle umgebracht, und deshalb für den Anschluss an Russland gestimmt? Sie waren von russischer Seite mit Propaganda überschüttet worden. Es hieß, dass in der Ukraine Neonazis an die Macht gekommen seien, die sie umbringen wollten. Solche Verschwörungserzählungen greifen, weil die Angst noch immer so präsent ist. Da sind die Erfahrungen von Eltern und Großeltern, die noch bis in die Stalinzeit zurückreichen.

Im Interview: Vladimir Vertlib

wurde 1966 in Leningrad (heute Sankt Petersburg) in eine jüdische Familie geboren. 1971 verließ die Familie Russland und ließ sich zehn Jahre später in Österreich nieder. Vertlib studierte in Wien Volkswirtschaft und wurde 1986 eingebürgert. Seit 1995 hat er zahlreiche Romane veröffentlicht und mit ihnen Preise gewonnen. Er lebt in Salzburg und Wien und schreibt auf Deutsch.

Vertlibs neuer Roman, „Zebra im Krieg“, Residenz Verlag, Salzburg, 2022, 288 Seiten, 24 Euro, ist vor Kurzem erschienen.

Wenn sich die Traumata von Krieg und Stalinismus verbinden, was macht das mit den Menschen?

Ich denke, es kumuliert zu einer Mischung aus Angst und einem Gefühl von absolutem Kontrollverlust und Ausgeliefertsein, gepaart mit einem schon in der Kindheit erlebten Sicherheits- und Vertrauensverlust. Wenn ein Kind nicht in einem geborgenen Umfeld aufwächst, sondern erlebt, wie Menschen abgeholt, eingesperrt und umgebracht werden, kann es kein Vertrauen entwickeln. Vor allem, wenn es die Angst und Ohnmacht der Erwachsenen dabei erlebt. In der Generation meiner Eltern, die in der Stalinzeit aufgewachsen sind, entwickelten sich viele zu Menschen ohne stabiles Fundament, ohne Grundvertrauen in die Welt. Das wirkt nach und wird über verschiedene Formen der Verdrängung und Projektion weitergegeben. Manche haben die Kraft, sich dem zu stellen, lernen damit umzugehen. Aber alle sind in der einen oder anderen Form massiv davon betroffen.

Es gibt in Ihrem Roman das jüdische Ehepaar Katz, das abgeholt und schikaniert wird, ohne dass man weiß, warum. Wie stark ist der Antisemitismus im Osten heute verbreitet?

Wobei ich das Ehepaar Katz auch etwas augenzwinkernd präsentiere, um gewisse Klischees zu hinterfragen. Doch gerade während der Coronakrise sehen wir auch im Westen, dass Antisemitismus wieder zunimmt. Wenn es eine Krise gibt, geht es früher oder später immer gegen die Juden. Im heutigen Mitteleuropa vielleicht weniger als in Osteuropa, im Nahen Osten, oder selbst in Indonesien, wo man in der Regel noch nie einen Palästinenser oder Juden gesehen hat. In Ungarn ist ein George Soros die Hassfigur schlechthin: Als westlicher Demokrat, Investor, Spekulant. Dass er Jude ist, ist sozusagen die Kirsche auf der Torte. Während der heißen Phase des Ukraine-Krieges wurde von russischer Seite – vor allem in sozialen Netzwerken – der Antisemitismus ins Spiel gebracht. Man hat der ukrainischen Führung mit Poroschenko an der Spitze unterstellt, sie bestehe durchwegs aus Juden. In Wahrheit war einzig der spätere Ministerpräsident Hrojsman jüdisch. In den staatlich kontrollierten russischen Medien war von der „faschistischen Junta“ die Rede. Gleichzeitig sollten es Juden sein. Also eine faschistisch-jüdische Junta in der Ukraine. Was soll man dazu noch sagen?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!