Runder Tisch zur Kita-Krise in Berlin: Das Märchen vom Betreuungsschlüssel
Laut Verdi kümmern sich Erzieher*innen in landeseigenen Kitas um doppelt so viele Kinder wie vom Senat behauptet. Das kann die Kinder gefährden.

An den Kitas klafft eine Lücke. Es ist eine Lücke zwischen der Vorgabe auf dem Papier, die gesetzlich regelt, wie viele Kinder eine Fachkraft betreuen soll. Und zwischen der tatsächlichen Anzahl von Kindern, für die eine Erzieherin im Alltag in den Kitas konkret zuständig ist. Wie groß die Lücke ist, darauf meint die Gewerkschaft Verdi nun erstmals eine fundierte Antwort geben zu können. Die Daten liefert eine berlinweite und repräsentative Umfrage in den landeseigenen Kitas, die Verdi im vergangenen November innerhalb einer Woche unter Erzieher*innen und Eltern durchgeführt hat.
Diese Umfrage zeigt: Die Erzieher*innen betreuen im Schnitt doppelt so viele Kinder, wie in einer offiziellen Statistik der Senatsbildungsverwaltung angegeben ist. Und selbst die Zahlen des Senats überschreiten schon die eigentlich vorgesehenen Betreuungsschlüssel. Demnach beaufsichtigt eine Fachkraft in einer landeseigenen Kita durchschnittlich rund 8 Kinder unter drei Jahren und 13 Kinder, die drei Jahre und älter sind. Bei maximaler Auslastung hatte eine Erzieherin sogar die Verantwortung für 12 ein- bis zweijährige Kinder sowie 18 Kinder über drei Jahre. Die Senatsverwaltung hatte angegeben, dass der Schnitt für alle Altersstufen und Kitaformen statistisch bei 1:5 liege.
Die Gewerkschaft folgert daraus: Die im Kita-Fördergesetz festgelegten Personalschlüssel „werden durch die tatsächliche Fachkraft-Kind-Relation flächendeckend unterschritten“. Denn während der Personalschlüssel gesetzlich regelt, wie viele Fachkräfte eine Kita für eine bestimmte Anzahl an Kindern einstellen muss, zeigt erst die sogenannte Fachkraft-Kind-Relation, wie viele Erzieher*innen am Ende tatsächlich mit wie vielen Kindern in der Kita sind.
Schlüssel nur Statistik
Verdi wirft der Senatsverwaltung vor, nur statistisch zu überprüfen, inwiefern Kitas den Schlüssel umsetzen. Das bilde „nicht die Realität vor Ort ab, weil hier Ausfallzeiten durch Krankheit, Urlaub, Fortbildung“ bei den Kolleg*innen hinzukommen, sagt Tina Böhmer, die als Gewerkschaftssekretärin bei Verdi für die Kita-Eigenbetriebe zuständig ist.
Es seien schlichtweg nicht immer alle eingestellten Fachkräfte da. Der reale Betreuungsschlüssel sei also schlechter. Um „einen realistischen Eindruck zu bekommen, ob eine kindgerechte pädagogische Arbeit stattfinden kann“, müsste das tatsächliche Verhältnis von Kindern und Erzieher*innen an einzelnen Tagen erfasst werden. „Obwohl das entscheidend für die pädagogische Qualität ist, liegen dazu keine offiziellen Daten vor“, kritisiert Böhmer am Montagmorgen vor dem Gebäude der Bildungsverwaltung, wo sie die Studie an Senatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) übergeben wollte.
Der „Kita-Realitätscheck“, wie Verdi die Studie nennt, zeigt außerdem, dass im Schnitt 37,5 Prozent der Belegschaft fehlen. 91 Prozent der Beschäftigten würden ihren Arbeitsalltag als „stressig oder brennend“ empfinden. Fast 20 Prozent der Befragten waren demnach zum Zeitpunkt der Umfrage krank, und „davon gaben 88 Prozent an, dass sie aufgrund der Arbeitsbedingungen erkrankt sind“.
Unter den befragten Eltern wiederum sagte mehr als die Hälfte, dass die Kitas Betreuungszeiten einschränkten, fast ein Drittel sagte, dies sei regelmäßig der Fall. Ein Großteil der Eltern forderte zudem, weitere Fachkräfte einzustellen.
Wissenschaftlerin sieht Kinderrechte bedroht
„Die Ergebnisse sind aus wissenschaftlicher Sicht sehr kritisch“, sagt Rahel Dreyer, Professorin für Pädagogik und Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre an der Alice-Salomon-Hochschule, die ebenfalls am Montag zur Senatsverwaltung gekommen war. „Förderlich für die kindliche Entwicklung ist nicht der Kita-Besuch an sich, sondern die dort erlebte Qualität der pädagogischen Arbeit und die Beziehungsgestaltung“, sagt sie. Wenn die Betreuung schlechter ausfalle, könne das zu anhaltender Trennungsangst, frühkindlichen Regulationsstörungen, Verlustangst und zu sozialem Rückzug führen.
„Die aktuelle Situation in Berlin widerspricht grundlegend den Grundbedürfnissen und Rechten von Kindern“, mahnt die Wissenschaftlerin. „Kinder brauchen stabile Bezugspersonen und verlässliche Strukturen.“ Besonders die unter Dreijährigen sind aus ihrer Sicht gefährdet. „In diesem Alter sind Kinder sehr vulnerabel, weil sie Stress noch nicht richtig verarbeiten können“, sagt Dreyer.
Bisher gehen die Meinungen darüber, wie groß das Problem an Berlins Kitas tatsächlich ist, stark auseinander. Im vergangenen Herbst hatten die Erzieher*innen der landeseigenen Kitas einen unbefristeten Streik angekündigt – um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die Senatsverwaltung für Bildung hatte damals die „Kita-Krise“ abgestritten und verneint, dass grundsätzlich Erzieher*innen in den Kitas fehlten. Senatorin Günther-Wünsch hatte nur eingeräumt, dass es in manchen Kitas vereinzelt Probleme gebe. Das Arbeitsgericht untersagte den Streik Ende September.
Runder Tisch tagt am Dienstag zum zweiten Mal
Seit November tauschen sich Senatorin und Vertreter*innen der Eltern und Kitas bei einem Runden Tisch über die Belastungen in den Kitas aus. Der Runde Tisch trifft sich am Dienstag zum zweiten Mal, dabei soll es auch um den gesetzlichen Personalschlüssel und die tatsächliche Fachkraft-Kind-Relation gehen. Im Vorfeld hatte der Eigenbetrieb „Kindergärten City“ für seine Kitas in Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte eine eigene Auswertung der Fachkraft-Kind-Relation vorgelegt, die zu weniger dramatischen Ergebnissen kommt als Verdi.
Die Gewerkschaft fordert den Senat auf, die tatsächlichen Personalquoten nun unabhängig und systematisch zu erfassen. Auch der Landeselternausschuss schließt sich dieser Forderung an. „Das gibt ein klares Bild“, erklärt Sabrina Simmons aus dem Vorstand. Bei Verdi wollen sie außerdem Verbindlichkeit: „Es muss Konsequenzen haben, wenn die Vorgaben nicht eingehalten werden“, sagt Tina Böhmer. Das diene den Kindern, aber auch den Arbeitsbedingungen der Fachkräfte.
Die Senatorin zeigte sich bereits gesprächbereit, dass sie im U3-Bereich den Personalschlüssel anheben wolle. „Das begrüßen wir. Aber es reicht nicht, nur eine Nachkomma-Stelle anzupassen, denn das ist wieder eine Maßnahme auf dem Papier, die in der Praxis nicht spürbar ist“, sagt Verdi-Generalsekretärin Böhmer dazu.
Möglich wäre es, weil in Berlin nach längerem Kita-Platz-Mangel inzwischen etwas mehr Luft ist. Teils ist auch im Gespräch, Erzieher*innen zu entlassen, weil es weniger Kinder gibt. Doch stattdessen fordern Wissenschaftler*innen, gerade in so einer Situation für die Kinder günstigere Personalschlüssel zuzulassen, weil auch die aktuell festgelegten Schlüssel aus wissenschaftlicher Sicht nicht ausreichen. „Es ist entscheidend, dass wir die Qualität trotz der Belastung nicht nur aufrecht erhalten, sondern kontinuierlich verbessern“, fordert Dreyer.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
Frieden in der Ukraine
Europa ist falsch aufgestellt
Die Neuen in der Linkspartei
Jung, links und entschlossen
Gentrifizierung in Großstädten
Meckern auf hohem Niveau