Rumänische Popszene: Mehr Manele für die Welt
Die tolle Turbo-Folk-Koppelung „Future Nuggets“ präsentiert in 16 Songs den Stilwillen der experimentierfreudigen rumänischen Popszene.
Ein Auto fährt durch die Straßen von Bukarest. Auf der Tonspur erzählt Suce Fraga davon, wie sie als Kind davon träumte, Geschäftsfrau zu werden. Ein Glück, dass es anders gekommen ist: Heute arbeitet Fraga laut eigener Aussage als Produzentin und Gangsterin. Die rumänische Künstlerin spielt Bass, Schlagzeug, Klavier und Gitarre. In besagtem Video führt sie ihre Zuschauer:innen durch die rumänische Hauptstadt.
Dabei berichtet Suce Fraga darüber, wie sexistisch sie von Musikerkollegen in Bukarest behandelt wird. Sie erzählt auch davon, wie sie von Konservativen angefeindet wird. Um dagegen anzugehen, setzt sie in ihren Songs oftmals explizite Texte ein. Suce Fragas Song „Led“ ist einer der Höhepunkte des Samplers „Future Nuggets: Sounds of the Unheard From Romania, Vol. 4“.
Darauf präsentiert das gleichnamige Bukarester Label-Kollektiv die Perlen seiner Arbeit der vergangenen Jahre. In diesem Jahr feiert Future Nuggets sein zehnjähriges Bestehen. Ein Anlass, den wiederum das Berliner Label Fun in the Church nun zur Veröffentlichung eines Jubiläums-Samplers mit neuer Musik des Future-Nuggets-Katalogs nutzt: „Psychedelische Sounds und obskure musikalische Hybride aus den dunklen und versteckten Ecken Rumäniens“ werden versprochen.
Obskurer Hybrid
Ein solch obskurer Hybrid ist auch Fragas Song „Led“. Auf Soundcloud hat die Künstlerin den Song mit der Umschreibung „Târfo type beat“ hochgeladen.Damit eckt sie im sehr religiösen Rumänien erneut an. „Târfo“ bedeutet auf Rumänisch so viel wie Bitch, was an die genüsslich verwendete Gossensprache von US-HipHop-Kultur erinnert. Ohnehin lässt sich Fraga mehr von der internationalen als von rumänischer Musik beeinflussen und zitiert in ihrem Sound häufig Elemente des HipHop.
Verschiedene Künstler:Innen: „Future Nuggets: Sounds of the Unheard from Romania, Vol. 4“, (Fun in the church/Bertus)
Live: Suce Fraga, Australopitecus Oltensis, Utopus, 16. Juli, Import Export, München
Auch ihr Song „Led“ ist von Trap inspiriert. Allerdings erinnert seine Struktur auch an den düsteren Synth-Pop der russischen Produzentin Kedr Livanskiy, genau wie an den sinnlichen R&B der US-Sängerin Abra. Frugas Stimme wabert beinahe lethargisch über verzerrte Synthies und pluckernde Beats. Fraga singt in „Led“ auf Englisch, in anderen Tracks singt sie in ihrer Muttersprache, aber auch auf Französisch.
Viele Künstler:innen des Labels „Future Nuggets“ zeigen sich von verschiedensten Musikströmungen beeinflusst, wie Ing. Roman von Elektro-Folk, Horus von Minimal Techno oder Plevna und Goldish von groovigem Psychedelic Rock. Bei fast allen Tracks des Samplers schimmern jedoch am deutlichsten die Einflüsse des Manele hervor. So wird ein Turbofolk-Genre genannt, das türkische, griechische, serbische, bulgarische und arabische Elemente mit zeitgenössischem Pop mischt. Seit den 1980ern spielt es vor allem in der marginalisierten Roma-Community Rumäniens eine wichtige Rolle.
Geld, Liebe, Sex, Korruption und Macht
In den Texten von Manele-Songs geht es meist um Geld, Liebe, Sex, aber auch Geld, Korruption und Macht. Das Genre setzte sich im Mainstream nach Ende des Ceaușescu-Regimes durch, bis 1989 war es verboten und wurde nur im Untergrund gespielt. Der kommerzielle Manele-Sound von heute nutzt neben westlichen Einflüssen des Pop und Rock auch HipHop- und Reggaeton- und weitere Dancefloor-Einflüsse.
Großer Beliebtheit erfreut er sich besonders in Musikvideos, auf Hochzeiten und in Großraumdiskotheken. Aufgrund seiner simplen Texte war das Genre bei Intellektuellen und Musikkenner:innen zunächst verpönt. Das änderte sich Anfang der zehner Jahre, als das Genre auch im rumänischen Underground beliebt wurde, vor allem in Bukarest und Cluj-Napoca. In diesem Zusammenhang gründete sich auch das Bukarester Label Future Nuggets.
Es hat sich zur Aufgabe gemacht, Sounds des Proto-Manele zu erforschen. Dieser stammt aus den 1980er und frühen 1990er Jahren, bevor sich das kommerzielle Manele im Mainstream durchsetzte. Alte Kassetten und Demoaufnahmen werden gesampelt und mit neuem Gesang und zeitgenössischen Beats versehen. Zwischendurch flackern, wie bei Suce Fraga, aber auch immer wieder westliche Einflüsse auf.
Feierliche und fröhliche Vielfalt
Die Compilation „Future Nuggets“ schafft es, die Neugier auf das vielschichtige musikalische Konglomerat des Manelesounds zu wecken. Das gelingt, in dem die Auswahl der Künstler:innen und Tracks sehr vielfältig ist, kaum ein Track ähnelt dem anderen. Während der Auftaktsong von Australopitecus Oltensis von noisigem Ambient geprägt ist, präsentiert die Band Delta einen ebenso groovigen wie ätherischen Instrumentaltrack.
Departamentul Zero liefern mit „Safe Passage“ sphärischen Psychedelicsound, der von verspielten Gitarrenläufen dominiert wird. Der Track „Marigold“ des Bukarester Musikers Inana kommt zunächst als melancholischer LoFi-Popsong daher, wandelt sich allmählich in ein funkiges Psychedelicpopstück.
Auf „Μη μου λες“ fusioniert die Bukarester Künstlerin Sarra orientalische und folkloristische Manele-Elemente mit verzerrten Synthie-Sounds. Im Visualizer zur Single fährt ein Auto über Landstraßen und durch Städte, dazwischen ploppen Bilder von Sängerinnen auf, vermutlich aus dem Rumänien der 1950er und 1960er Jahre. Sarra gelingt durch die Verknüpfung von Geschichte und Gegenwart ein eigenwilliger Sound, der mit den Tracks von Inana und Sucre Fruga zu den stärksten Aussagen des Samplers zählt.
„Future Nuggets: Sounds of the Unheard from Romania, Vol. 4“ gewährt Einblick in die hierzulande weitgehend unbekannte Underground-Szene Bukarests. Die 16 Künstler:innen der Zusammenstellung vereint nicht nur ihre Herkunft, sondern vor allem die Experimentierfreude. Woher die kulturellen Einflüssen, Soundfragmente und Beats stammen, ist nicht immer deutlich erkennbar. Aber genau darin liegt der Reiz der Musik.
Der verruchte R&B-Trap von Suce Fraga, der folkloristische Synthie-Pop von Sarra, der melodische Bedroom-Pop von Inana, der düstere Psych-Electro von Plevna und Ion D, der vorwärtspreschende Minimal-Techno von Horus, sie alle bieten Einblick in Klangwelten, die man so noch nicht in komprimierter Form gehört hat.
Und deshalb fühlt man sich beim Hören von „Future Nuggets: Sound of the Unheard from Romania, Vol. 4“ auch ein bisschen wie auf Zeitreise. Vom Proto-Manele bis hin zu den Bukarester Underground-Clubs der Gegenwart. Zu gerne würde man sich vorwärts in die Zukunft, zum 20. Geburtstag des Labels beamen lassen, denkbar ist, dass viele Künstler:innen aus Rumänien dann viel bekannter sind.
Bis es so weit ist, bieten die aktuellen Future Nuggets-Künstler:innen schon jetzt reichlich Material, das neugierig auf Gegenwart und Vergangenheit der rumänischen Musikszene macht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“