Rügen vor der Wahl in MV: Die Last mit dem Koloss
Auf Rügen beleben Investoren den von Nazis erbauten „Koloss von Prora“ neu. Ob das für die Zukunft der Insel gut ist, ist fraglich.
An diesem Mittwoch brät er in der Mittagszeit für zwei Gäste. Mehr haben den schmalen Weg in das etwas abseits gelegene Restaurant nicht gefunden. Trotz der Flasche Dornfelder, die auf einem kleinen Tischchen an der Straße steht, umrahmt von Tafeln mit Sonderangeboten. Zum Monatsende wird alles geräumt, die kleine Stube schließt. Weil sich nur rund 100 Meter entfernt Richtung Strand ein Nazi-Bau zu neuer Größe erhebt: der, wie es die Nazis einst selbst verstanden, „Koloss von Prora“ auf Rügen.
Ende der dreißiger Jahre errichteten das Naziregime – auch mithilfe von Zwangsarbeitern – den Kraft-durch-Freude-Bau. Diese Zeit ist längst vorbei, die Einheimischen sprechen heute immer noch vom „KdF-Bad“. „Prora“ sagen die Auswärtigen. Ein imposantes Stück Architektur vom Aufstieg und Fall politischen Größenwahns. Über 4,5 Kilometer zieht sich der Bau an der Küste entlang, unterteilt in fünf gewaltige Blöcke.
Bis zu 20.000 deutsche Arbeiter sollten dort gleichzeitig Ferien machen. Sich an der Ostsee erholen, Kraft durch Freude tanken eben. Das klingt harmlos, aber das „arische Volk“ sollte hörig gehalten werden – auch mit einem Strand, wie er für eine „Herrenrasse“ nicht würdiger sein könnte.
Abriss zwecklos
Prora band die Wankelmütigen ans System. Urlaub machten dort nur wenige. Als das NS-Regime seinen Weltkrieg begann, war Prora noch unvollendet. Nach 1945 nutzte das DDR-Militär den Bau. Teile der Nationalen Volksarmee wurden dort ausgebildet, Menschen unter härtesten Bedingungen zu Grenzschützern herangezogen. Prora war für diese Aufgabe der perfekte Platz. In Sichtweite, von Saßnitz aus, fahren von jeher die Fährschiffe ins freie Schweden.
Seit der Wende gammelt das Monstrum vor sich hin – und hätte abgerissen werden sollen. Aber das klappte nicht, allzu massiv war der Bau angelegt. Der Faschismus schuf den Giganten, der Sozialismus baute ihn für seine Zwecke aus. Jetzt nutzt ihn der Kapitalismus. Er tut dies im großen Stil. Schicke Eigentumswohnungen und mondäne Hotelanlagen entstehen, inklusive Restaurants, Bäckereien, Eisdielen.
Unter dem Titel „taz.meinland – taz on tour für die offene Gesellschaft“ reisen wir durch die Bundesrepublik und besuchen bis zur Bundestagswahl im Herbst 2017 etwa 50 unterschiedliche Regionen und Städte in Deutschland. Mit anderen Worten: Wir kommen zu Ihnen, wir als taz haben unsere Community nicht zu Gast – wir besuchen Sie, um zu erfahren, was sich von den Berliner Schreibtischen aus nicht erkunden lässt.
Alle Besuchstermine und weitere Infos finden Sie auf www.taz.de/meinland
Im Nutzungskonzept des Berliner Investors „Irisgerd“, der Block I für 2,75 Millionen Euro erworben hat, ist alles enthalten, um Autarkie zu gewährleisten. Selbst ein Dialysezentrum, „geführt von einem renommierten Ärzteehepaar“, wird entstehen, verrät der Verkaufsleiter Rico Gierke. Bis ins kleinste Detail kann er erklären, warum das Projekt „Neues Prora“ so grandios ist. Entscheidend aber sei: „Die Bausubstanz ist sensationell gut. Die Architekten haben damals klasse gearbeitet, es sitzt Stein auf Stein.“
Nichtsdestotrotz, und das ist Verkaufsleiter Gierkes Botschaft, geht etwas in Prora, Ortsteil vom Ostseebad Binz. Und doch haben die Bewohner den Eindruck, dass irgendwie nichts geht, und wenn, dann eher rückwärts, trotz des Riesenbauvorhabens – oder gerade deswegen.
Der Riesenkomplex steht für das Potenzial Rügens. Einerseits. Andererseits steht er auch für den scheinbar verschwenderischen Umgang damit. In Block I investiert Irisgerd, Block II realisiert ein holländisches Unternehmen. Lokale Firmen sind vereinzelt zwar mit eingebunden, der Gewinn wird aber woanders hinfließen. Und während vor allem deutsche Urlauber nach Rügen reisen, ist die Insel für die heimische, junge Generation perspektivisch tot. „Gibt ja nix hier außer ein paar Verkaufsläden und Rügenfisch“, sagt Howe, der Koch.
Investitionen in Millionenhöhe
Fische fangen und verkaufen will aber keiner mehr, selbst wenn alle Backfische so lecker wären wie der von Howe. Die Insel hat ökonomisch außer Tourismus nichts zu bieten. Davon zehren alle. Diejenigen, die von außerhalb kommen – „die Wessis“, sagen die Rüganer – profitieren aber mehr. Jetzt wird, so das Gefühl vieler, ein Stück Tafelsilber vollständig verscherbelt: Block V, der letzte im Besitz des Landkreises Vorpommern-Rügen, soll verkauft werden. Im Mai ist das entschieden worden, zwei bis drei Investoren signalisieren großes Interesse. Es geht um etliche Millionen, Genaueres verrät der Landkreis nicht.
Was das für die heimischen Hotelbetreiber und Restaurantbesitzer bedeutet, ist klar: Die Wiederbelebung des Nazibaus frisst das Kleingewerbe. Bücherläden, Restaurants, Cafés beispielsweise – aber deren Zukunft ist ohnehin ungewiss, es fehlt einfach der Nachwuchs, der deren Länden übernehmen möchte.
Enrico Howe, der Koch, ist nun auf Arbeitssuche. Den neuen alten Komplex lehnt er ab. „Da drüben möchte ich einfach nicht anfangen.“ Warum? „Nur so ein Gefühl.“ Trotzdem findet er gut, was in Prora geschieht. „Warum sollten die alten Ruinen denn stehen bleiben?“ fragt er. Alexander Tietböl, Howes Kellner, denkt ähnlich. „Ist doch gut, dass was geht, so werden dort Arbeitsplätze geschaffen.“
NPD und AfD
Tietböl ist 26 Jahre alt. Oder besser gesagt: jung. Aus seiner ehemaligen Schulklasse sind von 26 Schülern genau zwei auf Rügen geblieben. „Der Rest ist weg von hier, auch weg aus Meck-Pomm.“ Zurückgeblieben sind vor allem ältere Menschen. Die noch arbeiten, gehen auf die 50 zu oder haben sie schon überschritten; da ändert man nicht mehr viel, harrt in den erlernten Berufen aus und will das Ersparte sinnvoll verwalten.
1936 wurde in Prora mit dem Kraft-durch-Freude-Bau begonnen, geplant für bis zu 20.000 Urlauber. Zwischen Weltkriegsende und Wende war die Nationale Volksarmee dort ansässig.
Inzwischen sind eine Jugendherberge, das Dokumentationszentrum und die Kulturkunststatt entstanden. Letztere bangt wegen des geplanten Verkaufs dieses Gebäudeteils an Investoren um ihren Verbleib. Die Rüganer würden sie gern behalten. Sie befürchten, dass die Großprojekte die Verkehrssituation auf der Insel weiter verschärfen.
Die taz-Redakteure Julia Boek und Jan Feddersen fragen am Mittwoch, 31.8.2016, ab 18.30 Uhr im Grundtvighaus in Sassnitz: „Wohin entwickelt sich Rügen?“
Weil die Jugend wegzieht, fehlen Antriebskräfte für neue Ideen. Die Parteien reagieren auf ihre Art, wenn überhaupt. Präsent ist die NPD in dieser Gegend, in manchen Straßen hängen ausschließlich ihre Wahlplakate. „Heimat braucht Jugend“ steht auf einem. Darunter, etwas kleiner: „Gegen Homo-Ehe.“ Im nächsten Straßenzug sieht die Welt hellblau aus. „Heimat bewahren – AfD wählen“, heißt es hier. Jens Kühnel, der AfD-Kandidat des hiesigen Wahlkreises 33, lächelt herunter.
Während die ganz Rechten um den Einzug in den Landtag bangen, könnte Kühnels AfD noch vor der CDU landen und zweitstärkste Kraft werden. Wer wissen möchte, warum das so ist, fragt am besten im „Highway 96“ nach, einer kleinen Imbissbude am Ende von Block V von Prora. Der Mann, der dort krosse Pommes in Fish-and-Chips-Tüten verkauft, heißt Sven Schulz. Er lebt seit 1996 auf Rügen. „Der Familie wegen und weil ich die Insel liebe“, sagt er. Ursprünglich komme er aus Berlin, Weißensee vielmehr, verrät er, nachdem er sich eine Kippe angesteckt hat.
Dann dringt die Hauptstadt-Schnauze durch: „Die Prora-Pläne finde ich scheiße. Es ist wie immer: Jeder macht sich hier die Taschen voll, während das Land vor die Hunde geht. Und der Landkreis schaut zu, wie alles von den Investoren wegrasiert wird. Die können doch machen, was sie wollen.“ Schulz wählt AfD, „nicht weil die es besser machen, sondern weil die anderen nix gebacken bekommen. Die CDU-Plakate kann Merkel persönlich abhängen“.
Alexander Tietböl wählt auch, er wird im Spektrum der etablierten Demokraten sein Kreuzchen setzen. „Gar nicht hinzugehn, ist ja auch doof, aber eigentlich ist es egal, wen man wählt.“ Und eigentlich hat er auch andere Dinge im Kopf. Morgen ist sein erster Arbeitstag im Solitaire, dem neuen Hotel in Block II. Er hat sich für das Naheliegende entschieden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos