Rücktritt der EKD-Chefin Kurschus: Erst die Kirche, zuletzt die Person
Es gleicht einem Beben in der Evangelischen Kirche: Die Ratsvorsitzende Kurschus tritt zurück – um Glaubwürdigkeit für ihr Amt zu wahren.
Was genau geschehen ist vor rund drei Jahrzehnten im Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein, ist derzeit noch völlig diffus. Doch die Vorwürfe, die im Raum stehen, wiegen schwer. Im Kern geht es um Verdachtsfälle gegen einen Mitarbeiter aus Kurschus’ damaligem Kirchenkreis, der junge Männer sexuell bedrängt haben soll. Kurschus, so der Vorwurf, sei nicht transparent mit dem Fall umgegangen, unklar ist, wann sie davon erfuhr
Kurschus war lange mit der Familie befreundet, wie sie am Montag sagte, doch habe sie nie in einem Dienstverhältnis zu dem Mann gestanden. „Auch nicht zu meiner Zeit als Pfarrerin und Superintendentin im Kirchenkreis Siegen“. Sie habe damals allein die Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen. Sie sagte aber auch: „Ich wünschte, ich wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, geschult und sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die mich heute alarmieren würden.“
Druck stieg über das Wochenende
Berichtet hatte zuerst die Siegener Zeitung, in der sich Betroffene geäußert hatten. Die Siegener Staatsanwaltschaft ermittelt in mehreren Verdachtsfällen gegen den ehemaligen Kirchenmitarbeiter. Ob ein strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt, ist nach bisherigem Ermittlungsstand laut Staatsanwaltschaft unklar, die Taten könnten zudem bereits verjährt sein.
Kurschus hatte bei der Synode in Ulm in der vergangenen Woche Andeutungen zurückgewiesen, sie habe von dem Verhalten des Mannes gewusst und es vertuscht. Doch über das Wochenende wurde der Druck auf die Ratsvorsitzende größer. Das Beteiligungsforum von Betroffenen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche hatte sich zuletzt distanziert von Kurschus.
„Die aktuelle Berichterstattung stellt die Glaubwürdigkeit von Frau Kurschus in Frage“, teilten Vertreter:innen am vergangenen Donnerstag mit. Der Sprecher des Forums, Detlev Zander, sagte: „Frau Kurschus ist für die Betroffenen nicht mehr tragbar.“ Nun hat Kurschus die Reißleine gezogen. „Statt um die Betroffenen und deren Schutz geht es seit Tagen ausschließlich um meine Person“, sagte sie am Montag. „Das muss endlich aufhören.“ Den in der Öffentlichkeit geschürten Konflikt zwischen Opfern sexualisierter Gewalt und ihr als Amtsträgerin wolle sie auf keinen Fall austragen. Denn das gefährde Erfolge in der Aufarbeitung und Bekämpfung sexualisierter Gewalt.
Leitung bestand nicht nur aus Kurschus
Die Entscheidung Kurschus’ habe ihren vollen Respekt, sagte Kerstin Claus, unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, der taz. Klar sei, der öffentliche Druck habe Kurschus’ Glaubwürdigkeit beim Thema Aufarbeitung geschadet. Sie hätte sich gewünscht, so Claus, dass Kurschus ihre Entscheidungsgründe, die zum Rücktritt führten, umfassender erklärt hätte. „Das große Schweigen in der Kirche und anderen Institutionen führt dazu, dass Betroffene erneut in der Verantwortung sind, mit ihren Erlebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen“, kritisierte Claus.
Schadensbegrenzung allein reiche nicht aus, so Claus. Bereits bei der Synode in der vergangenen Woche in Ulm hätte die nun zurückgetretene EKD-Ratsvorsitzende konsequenter kommunizieren müssen. „Dass diese Fehler noch immer gemacht werden, erstaunt mich“, sagte Claus. Die Kirchenleitung bestehe aber nicht nur aus der Ratsvorsitzenden. Es sei auffällig, dass sich niemand vor dem Rücktritt öffentlich in die Debatte eingeschaltet habe. Auch auf taz-Anfrage an mehrere Personen in kirchlichen Verantwortungspositionen wollte sich niemand äußern.
Der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock, bezeichnete Kurschus’ Rücktrittserklärung dagegen als „beeindruckend“ und „aufrichtig“. „Sie hat agiert, wie es in der Politik behauptet, aber selten eingelöst wird: Erst das Große, dann das Amt, dann die Person“, sagte Dabrock der taz. Er kennt Kurschus seit vielen Jahren. „Sicherlich ist in der Kommunikation manches nicht gut gelaufen. Aber es gab auch Personen, die wollten ihr wohl nicht mehr vertrauen.“
Ob der Rücktritt mit Machtstrukturen in der Leitungsebene zu tun hat oder mit Äußerungen Kurschus’ zu unangenehmen Themen innerhalb der evangelischen Kirche, lässt sich nicht genau herleiten. Allerdings hatte sich die Ex-Ratsvorsitzende etwa sehr eindeutig zum Thema Aufarbeitung von Antisemitismus in den christlichen Kirchen geäußert – unmittelbar nach dem brutalen Angriff der Terrormiliz Hamas auf Israel und dem erstarkenden Antisemitismus auch in Deutschland. Zudem hat sie eine klare Haltung zur Aufnahme von Migrant:innen in Deutschland und kritisierte den Kurs der Bundesregierung.
Gemeinsame Erklärung Mitte Dezember
„Sie ist in ihre Rolle als EKD-Ratsvorsitzende zunehmend reingewachsen“, sagt Dabrock. Als Konsequenz aus ihrem Rücktritt kündigte auch der Jurist Michael Bertrams seinen Rückzug aus der Kirchenleitung an. Kurschus sei „einem nicht gerechtfertigten Vertrauensentzug, verbunden mit einer erschreckenden Lieblosigkeit und Kälte an der Spitze der EKD zum Opfer gefallen“, zitiert der Kölner Stadt-Anzeiger ihn.
Die stellvertretende Ratsvorsitzende Bischöfin Kirsten Fehrs übernimmt kommissarisch das Amt. Mit der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der evangelischen Kirche wird sie sich in Kürze öffentlich beschäftigen müssen. Seit 2019 arbeitet die Evangelische Kirche an einer „Gemeinsamen Erklärung“ zu unabhängigen Strukturen der Aufarbeitung, um Aufklärung und Hilfen für Betroffene zu schaffen. Diese Erklärung wird am 13. Dezember von der Missbrauchsbeauftragten Claus, der EKD und der Diakonie unterzeichnet. Eine solche Erklärung gibt es bereits mit der katholischen Kirche. Mit der evangelischen Kirche bisher nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin