Rückkehr des Klassenbegriffs: Klasse ohne Kampf
Wer heute Klasse sagt, meint meist Klassismus. Von links gibt's Kritik: Wenn die Zugehörigkeit zur Klasse nur angenehmer wird, schafft niemand sie ab.
Aber spätestens seit Didier Eribons Bestseller „Rückkehr nach Reims“ wird das Sprechen über Klassenfragen, über soziale Herkunft und Diskriminierung aufgrund der sozialen Position nicht nur im Feuilleton ernst genommen. Und das Krisen-Brennglas Corona hat der Diskussion über eine „Rückkehr der Klasse“noch mal Nachdruck und neue Aspekte verschafft: „Corona als Klassenfrage“ hieß unser Schwerpunkt dazu in der taz nord am vergangenen Wochenende.
Worum es dabei vor allem geht, macht ein Blick in diese Zeitung in den vergangenen Wochen deutlich: nicht um kommunistischen Klassenkampf, sondern um Klassismus, also – analog zum Rassismus und Sexismus – um Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft, um Ausschluss und Aufstiegschancen. Eine persönliche Geschichte vom sozialen Aufstieg konnte man da lesen, eine Rezension des neuen Sammelbandes „Klasse und Kampf“, einen Bericht über die Initiative „Arbeiterkind.de“, die sich gegen Klassismus im Bildungssystem wendet, und, und, und. Alle paar Tage ein Text.
Was hinterm neuen Interesse an der Klasse steckt, was es für wen bedeutet – und was in der Diskussion fehlt –, darüber wird leidenschaftlich gestritten. Für Irritation sorgte etwa Ende vergangenen Jahres ein Tweet des Zeit-Feuilletonisten Lars Weisbrod: „Wie viele Arbeiterkinder braucht man, um eine Glühbirne zu wechseln? 15. Einer wechselt die Glühbirne, die anderen 14 kriegen Kolumnen über ‚Klassismus‘ bei Vice.“Nicht nur Proletenkinder fanden das nicht witzig, weil eben: klassistisch, abschätzig, herablassend. Und Weisbrod ruderte im Gespräch mit taz-Kollege und „Postprolet“-Kolumnist Volkan Ağar später zurück: Ja, so werfe man Marginalisierten vor, von ihrer Marginalisierung zu profitieren.
Klassenkampf für Softies?
Denn in den Redaktionen, auch in dieser, sieht es jenseits der Klassismus-Kolumnen ja anders aus: Journalist:innen kommen immer noch meist aus akademischen Familien, rein kommt man über bestenfalls mies bezahlte Praktika – und also nur, wer sich das leisten kann, und also: wenig Kinder aus Arbeiter:innenfamilien.
Ein Problem, dass in den Redaktionen ja auch niemand bestreiten wird. Aber diskutiert wird dort gerade vor allem, ob eine solche Sensibilisierung für Klassenaspekte bloß ein „Klassenkampf für Softies“ ist. Das Argument: Ein bisschen Klassenbewusstsein mag das ja schaffen, aber sonst sei diese Wiederkehr der Klasse ein Tiger, der sich auf der individuellen, mikropolitischen Ebene die Zähne ausbeißt. Nicht viel mehr als Sensibilisierungsworkshops und Coachings kämen da heraus.
Oder wie es das linke Medienkollektiv Lower Class Magazine in einem Tweet ausdrückt: Der „feine Unterschied“ zwischen „postmodernem Klassismusblablabla“ und der „Klassenlinken“ sei, dass für Erstere das Problem sei, „dass Migrant*innen für Putzkäfte gehalten werden“, für Letztere aber, dass sie „als Putzkräfte gehalten werden“.
In der taz hat Isolde Charim vor einem Monat den Fokus auf Fragen des sozialen Aufstiegs und der Diskriminierung kritisiert: Während auch in der ursprünglichen Definition des Begriffs Klassismus beim US-Ökonomen Chuck Barone die Diskriminierung von sozialen Gruppen und von Individuen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu diesen Gruppen zwei zentrale Aspekte seien, falle der dritte und wesentliche Aspekt, die Unterdrückung durch das ökonomische System, in der derzeitigen Wiederkehr der Klassismus-Debatte unter den Tisch.
Die Klassenfrage werde so beschnitten und zu einer Frage bloßer Identitätspolitik: „Die Klasse wird zur Identität und der Klassismus zur identitätspolitischen Ausgrenzung.“ Und Identitätspolitik sei Anerkennungspolitik, die „Utopie des Klassismus-Diskurses“ deshalb nicht die Abschaffung des Kapitalismus, sondern bloß: „eine glückliche Unterschicht, glücklich, weil man sie nicht mehr so nennen darf?“
Ein zahnloser Tiger also, diese „Wiederkehr der Klasse“ als Klassismus-Trend? Eine für die herrschenden sozialen Zustände ganz und gar ungefährliche, für den Kampf für ihre Umwälzung hingegen höchst gefährliche Angelegenheit, weil sie den gerechten Furor der Unterdrückten in einen großen gesellschaftlichen Sensibilisierungskurs kanalisiert, damit die Ausbeutung sich für die Betroffenen doch wieder nur ein bisschen besser anfühlt?
Den ganzen Schwerpunkt der taz nord zum 1. Mai lesen Sie in der taz am Wochenende am Kiosk oder hier.
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