Unsichere Zeiten: Der Kühlschrank als sicherer Hafen

In diesen Tagen scheint vieles unkontrollierbar. Unserem Autoren gibt jedoch der Blick in seinen vollen Kühlschrank ein Gefühl von Sicherheit.

Der Innenraum eines prall gefüllten Kühlschranks

Sicherheit in unruhigen Zeiten: Blick in den Kühlschrank Foto: Michael Weber/imago images

Es sind unsichere Zeiten. Also schaue ich in meinen Kühlschrank. Wenn ihnen langweilig ist und sie nicht wissen, was sie sonst machen sollen, schleppen sich manche Menschen zum Kühlschrank, öffnen ihn, schauen rein und schließen ihn wieder, ohne etwas herauszunehmen. Für mich ist der Blick in den Kühlschrank keine beiläufige Verlegenheitsgeste. Der Blick in den Kühlschrank zeigt mir, was ich zu erwarten habe. Je voller der Kühlschrank, desto wohler fühle ich mich. Ganz egal, ob mir der Inhalt gefällt.

Wenn mich mal ein Freund besucht, wir in der Küche sitzen und ich ihn darum bitte, zwei frische Pils aus dem Kühlschrank zu heben, dann wundert er sich: Junge, was willst du mit so viel Zeug? Und wenn ich in seiner Küche sitze, er mich bittet, zwei frische Pils aus dem Kühlschrank zu heben, dann wundere ich mich. Sechs Bierflaschen, eine Butterdose und ein paar Scheiben Schmelzkäse: Wie lost muss der Junge sich fühlen?

Als ich vor ein paar Jahren in meine erste eigene Wohnung gezogen bin, habe ich mir fast alles gebraucht gekauft – außer meinen Kühlschrank. Wenn ich unzufrieden bin, mit mir, mit dem Leben, mit der Welt, dann ziehe ich los und fülle die Lücken in den Türfächern mit Eiern und Milchschnitte. Warum? Ich kann nur spekulieren.

Dogma des Individualismus

Vielleicht hab ich mir das irgendwann abgeguckt von den Eltern, Tanten und Onkeln. Als die so alt waren wie ich, waren erst wenige Jahre vergangen, seit sie in ein fremdes Land gekommen waren, um dort eine neue Existenz aufzubauen. Vieles in ihren Leben war unberechenbar und unkontrollierbar. Was sie kontrollieren konnten: dass sie arbeiten gehen und mit dem Geld, das sie verdienen, den Kühlschrank füllen. Vielleicht ist das aber auch nur billige Küchenpsychologie und ich bin einfach grundlos voll das Konsumopfer. Das Gefühl der Sicherheit ist in jedem Fall echt.

Und ich freue mich über die beständige Beziehung zu diesem Küchengerät. Andere haben eine große Plattensammlung, ein Auto oder schöne Kunst. Ich habe meinen Kühlschrank. Manchmal ist die Freude über ihn besonders groß. So auch vergangene Woche, als die Schnelltests dann doch positiv ausfielen. Und der anschließende PCR-Test auch. Der Kühlschrank war aber zum Glück: voll.

Weil man aber auch in der Quarantäne isst, leerte er sich nach und nach. Als auch die Milch irgendwann alle war, erledigte sich eine Illusion auf schmerzhafte Weise, die ich lange über das Füllen des Kühlschranks kultiviert hatte. Ich sah mich mit der Wahrheit konfrontiert: Ich habe natürlich nicht alleine alles unter Kontrolle, ich bin von anderen Menschen abhängig, auch wenn der Zeitgeist mit seinem Dogma des Individualismus anderes behauptet. Der zufriedene Blick in den Kühlschrank wich so dem zufriedenen Blick auf die Einkaufstüten, die Freun­d:in­nen vor meiner Wohnungstür abstellten. Schön, auch in dieser Situation zu erleben, dass ich immer auf sie zählen kann.

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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