Rückgabe kolonialer Museumsbestände: Geste der Solidarität und Fairness
In westlichen Museen liegen tausende Kolonialobjekte. Die Experten Felwine Sarr und Bénédicte Savoy fordern die Rückgabe der Raubkunst.
Die Geschichte hinterlässt überall ihre Spuren. Man kann sie ignorieren, oder man kann hinsehen. In direkter Nachbarschaft des Centre Français de Berlin befindet sich das afrikanische Viertel, dessen Straßen nicht nur auf Länder wie Kongo oder Togo verweisen, sondern auch die Namen der deutschen Kolonisatoren Lüderitz, Peters und Nachtigal tragen. Darauf wies in seiner Begrüßungsrede Mnyaka Sururu Mboro vom Bündnis Decolonize Berlin hin, das Felwine Sarr und Bénédicte Savoy ins Centre Français eingeladen hatte.
Der senegalesische Wirtschaftsprofessor und die französische, unter anderem in Berlin lehrende Kunsthistorikerin haben im November 2018 ihren Bericht „Zur Restitution afrikanischer Kulturgüter“ vorgelegt. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hatte ihn bei den Wissenschaftlern in Auftrag gegeben, nachdem er ein Jahr zuvor überraschend bei einer Rede an der Universität von Ouagadougou in Burkina Faso die „temporäre Restitution“ von in Frankreich befindlichen Kulturgütern angekündigt hatte.
Der Report erregte Aufsehen, weil er nicht nur Aufschluss gibt über Aneignungsgeschichte und Ausmaß der afrikanischen Kulturgüter in französischen Museen. Sarr und Savoy schlagen darüber hinaus ein unter Mitwirkung von Juristen entwickeltes, mehrstufiges Modell für die Restitution aller Objekte vor, die ohne Zustimmung der ursprünglichen Besitzer nach Frankreich kamen und von einem afrikanischen Land zurückverlangt werden.
Die große Bedeutung, die der Restitutionsbericht für die Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen kolonialen Erbe von Afrika und Europa hat, spiegelte sich in der Zahl von Zuhörern, die sich im Centre Français einfanden. Im Saal, der 220 Sitzplätze hat, mussten viele stehen. In einem Nebenraum, in den die Veranstaltung per Video übertragen wurde, saßen und standen mindestens weitere hundert Menschen. Viele mussten am Eingang abgewiesen werden. Das Publikum war mehrheitlich jung und divers. Auch Ältere und in Berlin lebende Afrikaner, unter anderem aus der großen kamerunischen Community, waren gekommen.
Inventarlisten veröffentlichen
Ungefähr 80.000 Objekte aus Afrika gebe es in französischen Museen, berichtete Felwine Sarr, 70.000 davon im Pariser Musée du quai Branly (das übrigens nach der Straße benannt wurde, an dem es steht, weil man sich bezüglich der Namensgebung nicht einigen konnte). Rund 45.000 Objekte gelangten während der französischen Kolonialherrschaft zwischen 1880 und 1960 nach Frankreich.
Bénédicte Savoy ergänzte, dass sich im Anhang des Reports 9.000 Seiten mit Inventarlisten befinden, die es den afrikanischen Staaten ermöglichen sollen, nachzuvollziehen, welche Objekte aus ihrem Besitz stammen. Es sei selbstverständlich, dass zu jeder Bibliothek ein Katalog gehöre. Auch die Museen sollten ihre Inventarlisten veröffentlichen, meint Savoy. Ein Museum ohne öffentlich zugängliches Inventar sei nur ein Haufen von Objekten.
Mittels online abrufbarer Inventarien könnte Crowd-Forschung betrieben werden, ohne die eine Untersuchung der Bestände gar nicht möglich sei: Allein in deutschen Museen befinde sich mindestens eine Million außereuropäischer Gegenstände.
Aber warum überhaupt „Restitution“? Ist es nicht naheliegender, praktischer, weniger konfliktträchtig und dem kulturellen Austausch förderlicher, wenn man auf diese Forderung verzichtet? Haben die europäischen Länder und Museen nicht die besseren Möglichkeiten, sich professionell um Kunstgegenstände zu kümmern? Sind also die Zauberwörter „Zirkulation“ und „Kooperation“, die auch gern von deutscher Seite als Antwort auf Restitutionsforderungen ins Spiel gebracht werden, nicht angemessener?
Akten zu fraglichen Objekten
Nein, sagt Savoy. Restitution sei die richtige Formulierung und Forderung, damit das Problem verstanden werde. Denn die beiden Wissenschaftler haben herausgefunden, dass bereits vor 40 Jahren eine französische Kommission dieselben Fragen stellte und zu denselben Schlüssen kam, was folgenlos geblieben und sodann gründlich vergessen worden sei.
Im April 1982 beauftragte der französische Außenminister den Generalinspektor der französischen Museen, Pierre Quoniam, die Frage der Restitution afrikanischer Kulturgüter zu untersuchen. Quoniam stellte eine Expertengruppe zusammen, sein im Juli 1982 eingereichter Bericht bezeichnete die Restituion als „Geste der Solidarität und Fairness“. Die französische Gesellschaft sei aufgefordert, ihre Intelligenz anzustrengen, glaubte Quoniam. In Deutschland sei es damals Hildegard Hamm-Brücher gewesen, die eine großzügige Haltung gegenüber Restitutionsforderungen empfahl, ergänzte Savoy.
Der französischen Verwaltung sei der Bericht Quoniams aber heute gänzlich unbekannt, und afrikanische Restitutionsforderungen seien mit Verweis auf das Gesetz zum Schutz französischen Kulturguts, das manche anscheinend für Gott hielten, wie Savoy polemisch anmerkte, noch im Jahr 2016 zurückgewiesen worden.
Damals hat die Regierung von Benin zum wiederholten Mal die Restitution von rituellen Gegenständen mit königlichen Insignien beantragt, die bei der Plünderung des Königspalasts von Abomey 1892 gestohlen worden waren und in ein Vorläufermuseum des Musée du quai Branly gelangten. Wenn man sich in Deutschland Akten zu fraglichen Objekten kommen lasse, stammten diese meist aus Beständen, die offiziell als „Kriegsbeute“ deklariert seien, erzählte Savoy.
Diasporische Objekte
Die Fakten seien in vielen Fällen klar, und dennoch versteckten sich die Institutionen hinter einem Diskurs der erst einmal dringend nötigen Provenienzforschung. „Mich hat das Bedürfnis nach Wahrheit angetrieben“, erläuterte Savoy ihre Motivation. Die Diskrepanz zwischen Fakten und Fake News habe sie geradezu körperlich unerträglich gefunden.
Nein, sagt auch Felwine Sarr: Es gebe eigene afrikanische Traditionen des Umgangs mit dem Kulturerbe, zum Teil über Staatsgrenzen hinweg. Und die Afrikaner seien sehr wohl in der Lage, auch neue Strategien zu entwickeln. Manchmal würden rituelle Objekte genutzt und dann wieder ins Museum gebracht. Die fraglichen Objekte seien nun diasporische Objekte, die auch ihre Geschichte der Aneigung transportierten.
Macrons einseitige Ankündigung der Restitution wurde von vielen afrikanischen Intellektuellen als paternalistische Geste und Machtspiel kritisiert. Davon abgesehen, dass Frankreichs Kolonialherrschaft zwar offiziell beendet, der französische Einfluss in den nach 1960 entstandenen Staaten aber noch sehr groß ist. Moderatorin Arlette-Louise Ndakoze fragte daher, wie ernsthaft Macrons Position sein könne, wenn er historische Fakten nicht anerkenne und außerdem behaupte, es gebe keine französische Afrikapolitik mehr?
Die Motive Macrons sind Felwine Sarr jedoch egal: „Man muss historische Gelegenheiten ergreifen!“ Sarr hält die Frage nach der Restitution für eine symbolische Frage, die tektonische Verschiebungen nach sich ziehen wird.
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