Rudelgucken zur EM: Ohne „Wir“ im ruhigen Biergarten
Unser Autor findet fürs Halbfinale einen Biergarten ganz ohne Trikotträger:innen und Fahnen. Das wirkt wie aus der Zeit gefallen.
S treit war’s nicht, aber eine gewisse Uneinigkeit war im Freundeskreis festzustellen: Wo gucken wir das Halbfinale? Gemeint ist das erste, das von Spanien und Frankreich. Erstmal was Essen gehen, also: radeln, denn dann ist man flexibler. Schon die Essensauswahl war divers. In der Markthalle, in der wir uns trafen, ging jeder und jede zum Stand mit dem präferierten Essen: die meisten Griechisch, einer Französisch, und ich habe mir eine Minipizza gegönnt, also italienisch.
Aber eine Pizza ist ja noch kein Fußballspiel, und der erste Ort, auf den sich die radelnde Runde einigte, war ein Biergarten am Tempelhofer Feld. Der erste hatte zwar Getränke, aber keinen Fernseher. Der zweite jedoch bot alles: kulinarisches Angebot, großer Bildschirm, ausreichend Toiletten, freie Plätze, zu denen sogar ein paar vor den Bildschirm gestellte Sofas gehörten.
Wir nahmen teils auf Stühlen, teils auf der Couch Platz und vor allem: recht nah vor dem Bildschirm. Wer sich vor uns hinpflanzen wollte, musste dies auf dem Boden tun. Und es ging noch perfekter (sofern es dieses Wort überhaupt geben darf): Da waren nämlich lauter angenehme Menschen versammelt, dem Augenschein niemand in irgendwelchen Nationaltrikots, auch nicht die von Check24. Und Fahnen, mit denen Leute bei solchen Events in der Regel ja eh nur Unfug machen (vor meinem Gesicht schwenken etwa, wo ich doch gerade gerne die Zeitlupe sehen möchte), habe ich auch nirgends gesehen.
Aus der Zeit gefallen
Ein Biergarten, wie in eine bessere Zeit hinein- und aus der jetzigen Zeit herausgefallen. (Ich erinnere mich sehr ungern an Kreuzberger öffentliche Fernsehnächte, es war während des viel zu sehr gerühmten Sommermärchens 2006, bei denen junge Menschen nicht nur, was schlimm genug ist, aufstanden, um ihre Hymne in Richtung Leinwand zu schmettern, sondern sich auch noch lautstark beschwerten, dass sie die einzigen waren, die in dieser, dank der eng an den Holztisch herangezogenen Sitzbank, halbgeknickten Stellung standen, sich also für ihre Nation krumm machten.)
Zurück ins Jahr 2024. Ich saß also auf einem Stuhl, hatte genügend Beinfreiheit, und tatsächlich saßen um mich herum alle. Niemand stand. Niemand sprang bei heiklen Szenen auf, niemand beschimpfte Spieler oder Schiedsrichter, und alle genossen das Spiel, das ja zumindest in der ersten Halbzeit tatsächlich hochklassig war.
Mag sein, dass viele Leute glauben, zu irgendjemand halten müssen. Dass sie kein Vergnügen haben, wenn sie keine Häme ausschütten dürfen. Dass ihr Lustgewinn nur dann gegeben ist, wenn sie zum siegenden, ja, dominierenden „Wir“ gehören – alles möglich. Aber mich freut es sehr, dass tatsächlich auf diesem früheren Flugplatzgelände, das irgendwann sogar einmal „Tempelhofer Freiheit“ geheißen hat, noch ein Plätzchen für einen wie mich da war, der doch einfach nur Fußball gucken will. Und vorher vielleicht ’ne Pizza isst.
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