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Rote Karte: Ohren zu und durch

Je tiefer die Liga, desto schlimmer die Pöbeleien und Schiedsrichter-Beschimpfungen. Ein Beispiel aus Wilhelmsburg zeigt die Kreisklasse von ganz unten  ■ Von Volker Stahl

Früher wurden sie bei umstrittenen Entscheidungen vom Fußballpublikum gern als „schwarze Sau“ beschimpft, seitdem sie gelb- oder grüngewandet pfeifen, ist der Umgangston nicht feiner geworden. Im Gegenteil: Besonders bei unterklassigen Begegnungen vergreifen sich Spieler und Zuschauer immer häufiger in der Wortwahl und beleidigen Schiedsrichter mitunter aufs Übelste. Weil dem Hamburger Fußballverband (HFV) ein „Hurensohn“ nicht mehr als zehn Tage Sperre wert war, platzte einem Opfer der Kragen. Der Wilhelmsburger Unparteiische Wilfried Suhr beschwerte sich beim Verband –und stieß auf eine Mauer des Schweigens.

„Kreisklasse ist das Schlimmste, was es gibt“, empört sich Suhr . Der Erste Vorsitzende des ESV-Einigkeit spricht aus Erfahrung. Schließlich ist der 54-Jährige seit bald zwei Jahrzehnten als Schiedsrichter im Einsatz. Zudem kickt die zweite Mannschaft seines Vereins in der Klopper- und Pöbelliga. Der Vorfall, über den sich der ESV-Vorsitzende so aufregt, ereignete sich am 27. Oktober beim Spiel SV Rönneburg - FC Türkiye. Im Laufe der Begegnung der Kreisklasse 3 stellte Suhr zwei Spieler des Gastvereins vom Platz. Huseyin Karakaya und Birol Gültekin hatten den Referee nach dem zwischenzeitlichen 0:2-Rückstand als „Hurensohn“ tituliert. Auch am Seitenrand tobte die Volksseele. Für einige der mitgereisten Zuschauer war Suhr nach den Platzverweisen nur noch ein „Nazi“ oder „Schweinehund“. Sogar der zur Halbzeit ausgewechselte Türkiye-Angreifer Fevzi Bingöl, zugleich Erster Vorsitzender seines Clubs, mischte von der Seitenlinie kräftig mit: „Blöder Spitzbart!“ Seine Empfehlung an Suhr: „Nicht soviel Scheiß pfeifen!“ Eine Woche nach der 1:4-Niederlage legte Bingöl im Sport-Mikrofon nach: „Der Schiedsrichter hat uns von Anfang benachteiligt. Wie kann es sein, dass bei so einem wichtigen Spiel ein Schiedsrichter von einer anderen Spitzenmannschaft eingesetzt wird?“ Die Beleidigungorgie war ihm aber mittlerweile peinlich: „Solche Aktionen schaden uns als türkischem Verein.“ Der Vorsitzende kündigte an, die Rotsünder vereinsintern zu bestrafen.

Mit dem sportgerichtlichen Nachspiel allerdings war Suhr nicht zufrieden. Die Verhandlung gegen die beiden Übeltäter wurde erst gar nicht eröffnet. Gültekin kassierte eine „automatische Sperre“, also zehn Tage. Karakaya kam noch glimpflicher davon. Er musste nur ein Spiel aussetzen, weil er Suhr erst beleidigte, nachdem er Gelb-Rot wegen Meckerns und groben Foulspiels gesehen hatte. „Das kann ja wohl nicht wahr sein“, kommentiert er das Strafmaß und fragt: „Sind Schiris Freiwild für die Spieler?“ Suhr beschwerte sich daraufhin schriftlich beim Hamburger Fußballverband und warf dem Sportgericht vor, mit zweierlei Maß zu messen. So sei ein Einigkeit-Spieler wenige Wochen zuvor für eine „blinde Socke“ gen Schiedsrichter für drei Wochen gesperrt worden. Und gegen seinen Liga-Coach Thomas Kurt wurde mündlich verhandelt, weil er den Schiri „kleinen, arroganten Fatzke“ nannte.

Auf Suhrs Anfang November abgeschicktes Schreiben hat der Verband bis heute nicht reagiert. Uwe Ennuschat, im HFV zuständig für das Schiedsrichterwesen, schiebt den Schwarzen Peter weiter: „Ich den Brief an den Vorsitzenden des Sportgerichts weitergeleitet.“ Auf die Vorfälle im Kreisklassenspiel angesprochen, meint Ennuschat: „Das ist leider das normale Maß dessen, was sich die Schiedsrichter heute anhören müssen.“ An ihm perlten Beleidigungen mittlerweile ab. „Vielleicht habe ich ein zu dickes Fell.“ Ennuschat, der selbst Woche für Woche als Schiri seinen Mann steht, legt nicht jedes Wort der Ak-teure auf die Goldwaage: „Wenn ich das täte, müsste ich den ganzen Montag Berichte schreiben.“ Wörter wie Nazi, Hurensohn und Schweinehund seien leider „normal“ geworden. Seine Empfehlung: Rot zeigen, umdrehen, weggehen, Vorfall vergessen! „Wenn jede Äußerung nach roten Karten vom Sportgericht weiterverfolgt werden sollte, müsste die Anzahl der Richter verdoppelt werden und die HFV-Geschäftsstelle einen weiteren Mitarbeiter einstellen.“ Der Aufwand wäre nicht mehr zu bewältigen. Im rauher werdenden Ton spiegelt sich laut Ennuschat der Wandel des gesellschaftlichen Umgangs miteinander wider. „Im Alltagsleben ist die Hemmschwelle in den letzten Jahren erheblich gesunken. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den Fußball.“

Also nachgehakt bei Uwe Grimm, dem Vorsitzenden des HFV-Sportgerichts. Grimm sagt, das Gericht habe den Einzelfall geprüft und sich für Bestrafung auf schriftlichen Weg entschieden. „Wir konnten keinen Anlass für eine Verhandlung sehen.“ Dem Verfasser der Protestnote wirft er einen zu starren Blick durch die Vereinsbrille vor: „Suhr ist doch deshalb unzufrieden, weil Mitglieder seines Vereins höher bestraft worden sind, obwohl sie nach seiner Einschätzung weniger Verwerfliches gemacht haben als die Spieler von Türkiye.“ Aber warum gab es nicht einmal ein Antwortschreiben? „Der Verwaltungsaufwand ist unzumutbar. Man kann nicht jedem Schiedsrichter seine Entscheidung schriftlich erklären.“ Trotzdem war der Fall Suhr Thema im Bezirkschiedsrichterausschuss Harburg. Bei einem Termin sei sogar ein Mitglied des Verbandsschiedsrichterausschusses hinzugezogen worden, so Grimm, um den Sachverhalt zu klären. „Dabei ist Einvernehmen erzielt worden.“ Suhr war in diese Gespräche allerdings nicht mit einbezogen worden.

Tendenziell sieht Grimm „keine Verschärfung“ der Situation auf den Plätzen. „Solche Beschimpfungen kommen seit Jahr und Tag vor.“ Es gebe allerdings in den letzten zwei, drei Jahren „mehr Meldungen über verbales Fehlverhalten von Personen jenseits der Seitenlinie“. Die Ursache ortet Grimm in einer Maßnahme des Vorsitzenden des Verbandsschiedsrichterausschusses. Der habe seine Mitglieder für das Problem der pöbelnden Zuschauer „stärker sensibilisiert“ als sein Vorgänger. Das Thema Schiri-Beleidigungen sei im übrigen keine Spezialität türkischer Teams oder „heißbblütiger Südländer“, betont Grimm. „Auch deutsche Spieler machen das leider häufig. Sie benutzen nur andere Schimpfwörter.“ Bei einheimischen Sportsfreunden stehe das Schimpfwort „Kanacke“ höher im Kurs als „Nazi“. Auch nicht die feine englische Art.

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