Roman von Emily St. John Mandel: Vorsicht vor Zeitreisen
Der aktuelle Roman von Emily St. John Mandel ist, wie die Autorin selbst nahelegt, leicht neben der Spur. Doch er ist auch von Lebensfreude getragen.
In Analogie zu leichtfüßigen Menschen könnte man die kanadische Autorin Emily St. John Mandel als leichthändige Autorin bezeichnen. Ihr ruhiger, fast beiläufig daherkommender Stil prägt auch ihren neuen Roman „Das Meer der endlosen Ruhe“, eine speculative fiction, in der es, zumindest oberflächlich, um Zeitreisen geht.
Den allermeisten Zeitgenossen sind die Paradoxa von Zeitreisen bewusst, und St. John Mendel erspart es den Lesern dankenswerterweise, neuerlich auf die Widersprüche dieser Imagination hinzuweisen, auch fährt sie keinerlei technisches Brimborium auf, um sie literarisch doch möglich zu machen. Im Jahr 2401 gibt es sie, aber sie machen Probleme.
Die liegen, wie meist, im Menschen selbst, sei dieser nun aus Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Denn, so musste der Zeitreisende Gaspery-Jacques Roberts in seiner Ausbildung lernen, bei Reisen in die Vergangenheit muss diese absolut und in jedem Detail so bleiben, auch wenn das bedeutet, dass man auf eine sehr sympathische Person trifft, von der man weiß, dass sie drei Tage später sterben wird, obwohl es leicht zu verhindern wäre. Eingriffe in die Zeit werden nicht geduldet, die Strafen gegen Verstöße sind entsprechend drakonisch.
Auf Zeitreise geschickt wird Gaspery vom leicht mysteriösen Zeitinstitut, weil an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten der Vergangenheit Störungen auftreten: kurze Sequenzen, in denen Menschen seltsame, unerklärliche Erfahrungen machen. Dahinter steckt das Phänomen sich überlagernder Zeiträume, die etwa dazu führen, dass der Auswanderer Edward St. John St. Andrew 1912 mitten in einem kanadischen Wald Geigenklänge und seltsame Geräusche aus einem anderen Jahrhundert hört.
Emily St. John Mandel: „Das Meer der endlosen Ruhe“. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Ullstein, Berlin 2023. 288 Seiten, 22,99 Euro
Auf der Suche nach einer Erklärung für diese Anomalien reist Gaspery in verschiedene Zeiträume der Vergangenheit und wird dabei natürlich gegen die Kein-Eingriff-Regel verstoßen. Bis er den Grund für die Anomalien findet, springt der Roman zwischen den Zeiten hin und her. Dabei verwebt St. John Mandel Biografisches, Autofiktionales und Intertextuelles in einem komplexen Verweissystem.
Leben auf einer Mondkolonie
So begegnet Gaspery 2203 auch der Schriftstellerin Olive Llewellyn, die auf einer Mondkolonie lebend, auf der Erde auf Lesetour ist. Gerade ist ihr Roman „Marienbad“ erschienen, in dem es um eine Pandemie geht. (Gaspery, dies nur nebenbei, ist nach einer der Romanfiguren dieses Romans benannt.)
In der Autorin Olive Llewellyn kann man unschwer das Alter ego St. John Mandels erkennen, die mit ihrem kurz vor den Corona-Ereignissen erschienen Roman „Station Eleven“ – in Deutschland zunächst unter „Das Licht der letzten Tage“ veröffentlicht – den Pandemie-Roman der Stunde geschrieben hatte: eine zärtliche Dystopie über das Leben nach einer Viren-Pandemie. Als Llewellyn gefragt wird, woran sie aktuell schreibe, antwortet sie, es sei eine „verrückte Sci-Fi-Geschichte“, die „irgendwie leicht neben der Spur“ sei.
Diese Antwort verweist auf „Das Meer der endlosen Ruhe“, also das Buch selbst, das, so St. John Mendel, ein Produkt der Coronapandemie sei. Diese Zeit sei so seltsam gewesen, dass sie ein „Gefühl von kreativem Leichtsinn“ erzeugt habe. Sie habe gedacht: „‚Alles ist schrecklich. Überall um mich herum sterben Menschen. Ich werde einfach schreiben, was ich will.‘ Ich wollte schon immer Zeitreiseromane schreiben, also begann ich, eine Zeitreisegeschichte zu schreiben.“
Auch aus Mendels Roman „Das Glashotel“ (2020) über ziemlich skandalöse Wirtschaftskriminalität finden sich Figuren in „Das Meer der endlosen Ruhe“ wieder – das Thema der Zeitreise wird also gewissermaßen auch intertextuell eingelöst. Und da in diesem neuen Roman tatsächlich alles leicht neben der Spur, aber schön zu lesen ist, reicht an dieser Stelle vielleicht der Hinweis, dass sich nicht nur intertextuelle und biografische Verweise – Edward St. John St. Andrew etwa erinnert an einen Vorfahren der Autorin –, sondern auch die Geschehnisse und Motive natürlich sich ineinander spiegeln und zeitanomalisch aufeinander verweisen.
Denn die eigentliche Frage, die der Roman stellt, ist die nach der Realität, in der wir leben. Die Anomalien, die die Figuren erleben, könnten schließlich als Datenfehler darauf hinweisen, dass alle in einer gigantischen Simulation leben – hier erinnert der Roman an literarische und filmische Vorläufer wie „Welt am Draht“ oder „Matrix“.
Von HBO verfilmt
Doch wie schon „Station Eleven“ das Dystopie-Genre auf den Kopf stellte, so wenig setzt der Roman einmal mehr böse Mächte in Szene, die die Menschheit unterjocht hätten und nun mittels Simulationen stillstellten. Vielmehr löst die Frage nach der gigantischen Maschine, die all diese Realitäten in Schwung halten würde, vor allem Staunen aus.
Emily St. John Mandel unterwandert die Genres. So wie ihr von HBO verfilmter Pandemie-Roman „Station Eleven“ tatsächlich tröstlich ist, so ist „Das Meer der endlosen Ruhe“, das den Realitätsbezug infrage stellt, von unerschütterlichem Optimismus und Lebensfreude getragen: „Sollte je der definitive Beweis dafür gefunden werden, dass wir in einer Simulation leben, gibt es nur eine korrekte Reaktion auf diese Neuigkeit: Na und? Auch ein in einer Simulation gelebtes Leben ist ein Leben.“
Womit man wieder beim Menschen ist – und der Frage, welches Leben er lebt, ob mit oder ohne Zeitreisen. Nicht zuletzt hat der Simulationsbegriff bei St. John Mandel eine weite poetische wie politische Dimension.
Denn so wie ein Roman eine fiktive Welt sei, sei auch der Kolonialismus eine Erzählung vom „leeren Land, das man sich einfach nehmen kann“: „Aber dort lebten Menschen. Das war es, was die Geschichte falsch machte. Meine Vorfahren, die über den Atlantik kamen, um dieses Land zu besiedeln, lebten, so scheint es mir, in einer Art Simulation. Es gab eine falsche Geschichte, in deren Dienst sie arbeiteten.“
Mit dem Taugenichts Edward St. John St. Andrew, einem von seinem Verwandten nach Kanada abgeschobenen Vorfahren, beginnt der Roman 1912 auf lustige Weise. Damit ist die Zeitreisende St. John Mandel zurückgereist in den Anfang ihrer eigenen familiären wie nationalen Simulationen, die sie zum Ausgangspunkt nimmt, um nach der Rolle von Fiktionen für unser Leben zu fragen.
Barack Obama hat „Das Meer der endlosen Ruhe“ auf seine jährliche Liste der Leseempfehlungen gesetzt. Wir schließen uns an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!