Roman von Autorin Dorothee Elmiger: Eine Kammer des Wunderns

Die Schriftstellerin Dorothee Elmiger feiert im Roman „Aus der Zuckerfabrik“ des schwelgende Lesen – und greift Themen wie Kolonialismus auf.

Porträt einer jungen Frau

Dorothee Elmiger öffnet mit ihrem Buch eine Wunderkammer Foto: Peter-Andreas Hassiepen

Und jetzt noch mal alles auf Zucker! Da hält die Erzählerin nun also eine Mappe in ihren Händen, auf der geschrieben steht: Zucker. Gerne imaginiert der Leser, dass der feine Raffinade­zucker, strahlend weiß und kristallschön, aus den Ritzen des Hefters bröselt. Allein, der Hefter, er enthält nur Worte. Sätze. Zitate. Die Grundlage für einen Essay, für einen Versuch.

Einen Versuch über den Zucker? Einen Versuch übers Erzählen. Oder über die Unmöglichkeit des Erzählens. Weil jeder erzählerische Ansatz eines Ichs, das behauptet, jetzt hier zu sein, irgendwie immer schon gelogen ist. Denn jetzt und hier ist nur die Autorin, die schreibt, und die beim Beschreiben vielleicht abgelenkt wird. Zum Beispiel von gurrenden Tauben oder tobenden Spätsommerstürmen.

Dorothee Elmiger: „Aus der Zuckerfabrik“. Hanser, München 2020, 272 Seiten, 23 Euro

Jedenfalls erzählt „Aus der Zuckerfabrik“, dieser literarische Essay aus den Händen von Dorothee Elmiger, eben gerade nicht vom Zucker und seinen Raffinerien. Vielmehr ist der Essay ein, ähm, raffiniertes Spiel mit zitierten Texten und Motiven. Ein Sammelsurium in und über Zucker. Nun klingt „Sammelsurium“ abwertend, ungeordnet, wahllos. Tatsächlich meint Sammelsurium so etwas wie die Wunderkammer des 17. Jahrhunderts, die sich der für uns heute selbstverständlichen Ordnung der Dinge entzieht.

Noch mal auf Anfang, was macht dieser ungemein spannende Versuch? Er geht von Menschen, Dingen und Bildern aus. Von dem Ananaskönig, der den Zuckergehalt seines Obstes misst, von dem Lottokönig, der schon bald seine Lottomillionen verlieren wird, von den Zuckerrohrplantagen in den Amerikas, den ökonomischen Zusammenhängen der Zuckerproduktion, macht weder bei Adam Smith und seiner unstillbaren Zuckerlust noch bei der Marx’schen Kolonisationstheorie halt. Folgt ferner Marie Luise Kaschnitz und Max Frisch, und anderen.

So ungefähr; oder doch ganz anders

Geordnet wird dieser Wunderkammer-Essay durch Orte und Stichworte. Man könnte ihn auch ganz anders ordnen, Ordnung ist hier ja relativ. Folgerichtig beginnt der Essay mit den Worten „So ungefähr“. So ungefähr könnte es gewesen sein, so ungefähr könnte man erzählen. Oder ganz anders. Es gibt so viele Möglichkeiten für ein erzählerisches Einsetzen wie Zuckerkristalle.

Als Leser lässt man sich auf ein literarisches Spiel, einen Leserversuch ein, auf den man Lust haben muss. Jedenfalls hat Dorothee Elmigers Text keine Lust, uns einen erzählbaren Plot, eine griffige Story zu liefern. Außer eben die Suche nach dem Zucker und seinen Bedeutungen.

Trotzdem tut der Text, was jeder gute Thriller, jede gute Verschwörungstheorie leistet: Er beweist, dass alles mit allem zusammenhängt, dass es eine Verbindung zwischen den Dingen gibt, wenn man nur bereit ist, sie zu suchen. „Mit jedem Gang durch das Chaos […] scheinen die Dinge in neue Verhältnisse zueinander zu treten.“

Der Text befindet sich im permanenten Modus des Sichwunderns

Nun sind es aber, anders als zum Teil bei Proust, nicht die Dinge selbst, aus denen plötzlich die wahre Wirklichkeit aufleuchtet, sondern eben die Fluchtlinien und Knotenpunkte, die sich auf der Suche nach den Dingen abzeichnen. Leitmotiv ist nicht nur der Zucker, sondern der Hunger, das unstillbare Verlangen, das uns in seiner verwandelten Form als Begehren begegnet.

Der Körper, zutiefst verwickelt

Auch die Körper, jedenfalls die weiblichen, sind Dinge, in Texten und Erzählungen. „Es ist mein Körper, der da liegt, zwischen den verstreuten Dingen anderer, der zutiefst verwickelt ist in alles, was passiert, und das, was ich zuvor als Material abgelegt habe.“ Kein Wunder, dass der Text Maurice Merleau-Ponty als Gewährsmann zitiert, den großen Körperphilosophen par excellence.

„Martin, der Lektor, sagt, im Falle einer Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen müsse auf jeden Fall ‚Roman‘ auf dem Umschlag stehen.“ Schon klar, sonst kauft es ja niemand. Dorothee Elmiger, Jahrgang 1985, hat bereits zwei Romane vorgelegt. Dass „Aus der Zuckerfabrik“, dieser ja doch etwas sperrigere, suchende, dem klassischen Erzählen misstrauende Text, nun auf der Shortlist des Deutschen wie auch des Schweizer Buchpreises zu finden ist, was soll man davon halten?

Ist Elmigers Text nun ein literarisches Feigenblatt, eines, das beweisen soll, dass „schwierigere“ Texte, keine klassische Romanerzählung und schon gar nicht allzu Gefälliges, dann eben doch eine Chance auf eine Nominierung, auf eine Publikation sowieso, haben?

Sperriges erlaubt

Man muss nur noch einmal an die Diskussion über den letztjährigen Buchpreis erinnern, als eine österreichische Buchhändlerin bekannte, dass sie das, was sie nicht lesen und verstehen, auch nicht verkaufen könne. Und dass es schwierige Texte deswegen zu verhindern gelte. Das schien ein Affront, gegen das Künstlerische, das Sperrige, auch das Experimentelle. Und warum sollte ein Preis das auszeichnen, was sich auch sonst leicht verkaufen lässt, was in der Aufmerksamkeitsökonomie also sowieso schon weit oben rangiert?

Die Debatte offenbarte, dass der Buchpreis eben auch ein Marketinginstrument ist. Reich gefüllte Büchertische begrüßen den potenziellen Leser in den Buchhandlungen. Der soll dann auch zugreifen wollen. Aber sollte es nicht um das beste Buch gehen? Nur, was heißt eigentlich „gut“, wenn die Möglichkeiten des Erzählens oder Nichterzählens beinahe unendlich groß erscheinen? Zu welchen Kriterien greift man?

Andererseits: Ist das alles nur Germanistendünkel? Wir (die Rezensentin gehört nun einmal auch dazu), die wir uns an literarischen Parodien, stilistischen Volten und Reflexionen über Erzählparadigmen delektieren, vielleicht sind wir dann doch nicht repräsentativ für das Lesepublikum? Vielleicht nicht. Aber auch das ist das Schöne an Elmigers Essay. Er ist eine Feier des schwelgenden Lesens, des ziellosen Suchens, an dem sich gewiss nicht nur Germanisten erfreuen.

„Diese Verwirrung, die das Schreiben stiftet, statt für Klärung zu sorgen …“ Der Text befindet sich im permanenten Modus des Sichwunderns; die Leser werden nicht in Welterklärungszusammenhänge geworfen, die die Erzählerin paternalistisch aufbereitet. Sie staunt, der Leser staunt mit – Prinzip Wunderkammer eben.

Stoff für große Erzählungen

Dabei greift Elmiger Themen auf, die durchaus Stoff für große Erzählungen und Romane liefern könnten und obendrein politisch heikel oder eben hochsensibel sind. Themen wie Kolonialismus, Geistes- und Entdeckergeschichte der letzten vier Jahrhunderte, und mehr. Nur dass der Text in der essayistischen Form seine Themen der Emotionalisierung und Personalisierung entzieht und sie nüchtern betrachtet. In einem Modus des Unaufgeregten, Unemotionalen, der geradezu – man wagt es gar nicht auszusprechen – so häufig mit männlichem Betrachten, Kontemplieren verbunden scheint, was eben nur ein weiteres Klischee widerlegt.

Die ebenfalls zum Buchpreis nominierte Anne Weber hat mit „Annette, ein Heldinnenepos“ die klassische Romanform hinter sich gelassen. Schöner Gedanke eigentlich, dass die literarische Avantgarde, oder jedenfalls die Riege der Experimentierfreudigen, plötzlich weiblich besetzt ist. Früher waren für die literarischen Experimente und Grenzsprengungen ja die Männer, vor allem die dandyhaften wie Rainald Goetz oder Christian Kracht, zuständig.

Elmigers Zugriff auf die Dinge jedenfalls ist ein tastender, beinahe zarter: „Die Dinge, die ich beschreibe, mir nicht zu nehmen, sie nicht haben zu wollen und sie nicht zu schmälern, so eindeutig zu bestimmen, sondern sie im Gegenteil noch freier und unabhängiger zu machen, als sie es waren, bevor ich zum ersten Mal ein Auge auf sie warf.“

Elmiger liefert ein lustvolles Spiel mit den erzählerischen Möglichkeiten, ein frei assoziatives Spiel, das dann aber doch Struktur und (verborgene) Ordnung besitzt. Und nur weil die Erzählerin dem Erzählen misstraut, heißt das noch lange nicht, dass es keine erzählerischen Passagen gibt.

„Ich lag am Fenster und sah zu, wie der Schnee, vom Wind beschleunigt, in hohem Tempo auf mich zustürzte, als bestürmten mich die Flocken lautlos, als wären sie alle Trägerinnen ein und derselben Nachricht, die sie so lange inständig wiederholten, bis ich sie schließlich entschlüsselt haben würde.“ Der Leser darf helfen, die Zeichen in Zucker und Flocken zu entschlüsseln.

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