Roman über Swinging London: Erwachsenwerden der Rockkultur
David Mitchell schickt vier Musiker ins London der Spätsechziger. Er erzählt mit historischen Bezügen von Aufbruch und Tragik in „Utopia Avenue“.
Bei der Lektüre von Romanen sollen LeserInnen sich darüber im Klaren sein, dass „lauter Unsinn“ auf den Seiten wartet, der jedoch bereitwillig geglaubt werden müsse, hat die US-Autorin Ursula K. Le Guin als Bemerkung ihrem SciFi-Roman (und literarischen Durchbruch) „Die linke Hand der Dunkelheit“ vorausgeschickt. Sich aufs Geschilderte einzulassen sei das eine.
Aber Worte sind nicht nur definierbare Zeichen, Metaphern und Symbole, „sie haben auch einen Klang. Ein Satz ist wie ein Akkord.“ Nach der Lektüre von Le Guin fasste der Brite David Mitchell einst selbst den Mut, mit fiktionalem Schreiben zu beginnen, er wolle die Gedanken so frei laufen lassen wie sein Vorbild. Mitchell hat es weit gebracht: Seine Romane sind zu Bestsellern geworden. Am bekanntesten ist „Der Wolkenatlas“, unter dem Titel „Cloud Atlas“ auch verfilmt.
Nun ist „Utopia Avenue“ in deutscher Übersetzung erschienen, Mitchells achter Roman, der im englischen Original 2020 herauskam. Mit seinen Vorgängern hat das Werk gemeinsam, dass Protagonisten-Namen früherer Werke cameo-like auftauchen und in den aktuellen Plot eingeflochten werden.
Weitermäandernde Namen
„Utopia Avenue“ dreht sich um eine gleichnamige Band, die, flankiert von einem kanadischen Manager, Bekanntheit erlangt und zur erst mühsamen, dann doch triumphalen Tour durch Großbritannien und die USA ansetzt. Gitarrist Jasper De Zoet trägt nicht nur denselben Nachnamen wie der Titelheld von Mitchells „Die Tausend Herbste des Jacob De Zoet“, ein historischer Roman, der sich um die Abenteuer eines holländischen Kolonialbeamten im Ostasien des ausgehenden 18. Jahrhunderts drehte.
Er ist auch ein direkter Nachkomme, der ein Familiengeheimnis in sich trägt. Mitchell gilt als furioser Fabulierer, aber auch als akribischer Rechercheur. Für „Die Tausend Herbste des Jacob de Zoet“ forschte er in japanischen, niederländischen und indonesischen Archiven.
Anders als „Der Wolkenatlas“, in dem Mitchell sechs Lebenswege in verschiedenen zurückliegenden und zukünftigen Jahrhunderten kreuzte, ist der Handlungszeitraum in „Utopia Avenue“ übersichtlich. Er beschränkt sich auf wenige Monate zwischen 1968 und 1969. Diesmal ist das Fiktionale Einfallstor für real existierende (pop)historische Gestalten und Begebenheiten.
Emanzipierte Musikjournalistin
Das allmähliche Erwachsenwerden von Rockkultur am Ende des Jahrzehnts dringt immer wieder direkt in die Handlung von „Utopia Avenue“ ein und wirft sie durcheinander. So taucht eine selbstbewusste Musikjournalistin auf, die die Musik von Utopia Avenue anerkennend rezensiert, dabei auch Erfahrungen mit dem Sexismus in der Branche nicht verschweigt.
David Mitchell: „Utopia Avenue“. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 747 Seiten, 26 Euro
Die Band Utopia Avenue trifft im Studio, im Nachtleben und bei Konzerten auf zahlreiche Stars: John Lennon, Brian Jones, Jimi Hendrix kommen vor. Mit Hendrix unterhält sich De Zoet über Gitarrentechniken, manchmal wirken diese Zwiegespräche allerdings etwas bemüht. Verschiedene andere Zeitgenoss:innen des historischen Swinging London, wie der Fotograf David Bailey und der Manager Andrew Loog Oldham, sind in fiktionalen Charakteren angelegt.
Szenen aus Michelangelo Antonionis Filmklassiker „Blow Up“ werden aus einer anderen, und zwar der Perspektive einer Fotografin geschildert. History und Mystery verschränken und verstärken sich, nicht immer gelingt es Mitchell allerdings überzeugend, aus diesem Wirrwarr neue Kniffe zu entwickeln.
Growing Up in Public
Je mehr man über Popgeschichte und die Schicksale jener goldenen ersten Generation der angloamerikanischen Rockszene weiß, auch darüber, wie chaotisch ihr „Growing up in public“ verlief, weil es ja keine Präzedenzfälle gab, desto diffuser wird Mitchells Plot. Vielleicht liegt es daran, dass die Aufbruchstimmung, in der die Sattelzeit von Rock ’n’ Roll fiel, nicht wenige utopische, tragische und, ja, sogar literarische Momente in sich birgt.
Lennon war nicht nur Popstar und Komponist, sondern er hat sich auch selbst literarisch versucht. Warum also ihn in „Utopia Avenue“ unbedingt auf einer Party auftauchen und sprechen lassen? Seiner Bedeutung hat dies nichts Entscheidendes hinzuzufügen und dem Geschehen im Roman?
Immer dann, wenn der Autor von der realen Rockgeschichte abrückt, Songs und Alben seiner Band erfindet, die Einzelschicksale der Bandmitglieder elliptisch verfolgt und drauflosfantasiert, wie die Band ihren Kampf um künstlerische Freiheit ausfechtet, wie ihre Musik klingt oder wie deren zeitgenössische Rezeption gewesen sein könnte, obsiegt poetic justice gegen die verbrieften Indizien der historischen Realität Ende der Sechziger.
„Utopia Avenue“ ist kein Eins-zu-eins-Abgleich mit Swinging London. Dafür bleiben das gesellschaftspolitische Panorama im Großbritannien jener Zeit und seine starren Klassengegensätze zu unscharf. Selbst die fiktiven Charaktere sind durchsetzt mit biografischen Mosaiksteinen von echten Popstars wie Syd Barrett. Fakten werden hier teilweise auch zur Last.
Barretts maßloser LSD-Konsum beschleunigte einen Persönlichkeitswandel, diese tragische Geschichte wandelt Mitchell in „Utopia Avenue“ ab und betont die manisch-depressive Disposition eines Popstars. Barretts alte Band Pink Floyd hat in ihrem berühmten Song „Shine On You Crazy Diamond“ das schillernde Wesen ihres psychisch angeknacksten Ex-Mitglieds schon 1974 mythifiziert.
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Andererseits, die Homosexualität von Utopia-Avenue-Sängerin Elf Holloway wird offener geschildert, als es das Versteckspiel von US-Bluesrocksängerin Janis Joplin (ihrem Vorbild) in den späten 1960ern zugelassen hätte, hier gelingt Mitchell durch Deutlichkeit mehr Brisanz. Plagiatsvorwürfe, Streitigkeiten um Gagen, aber auch eine Verfolgungsjagd bei einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg am Londoner Grosvenor Square blitzen am Handlungsfirmament des Romans auf.
Manche Details im Kleinen und auch im Großen tragen durchaus zur Spannung bei. Natürlich will man wissen, wie’s ausgeht, und liest somit weiter.
Und doch, es fehlt die Unmittelbarkeit und die Drastik, mit der etwa Hanif Kureishi in „The Buddha of Suburbia“ das den Sixties nachfolgende britische Popjahrzehnt zwischen Glam und Punk mit der Familiengeschichte eines migrantischen Upstarts zu einem Sog verbunden hat.
Das Rauschhafte von Kureishis Stil, bei dem zu merken war, dass er all die Orte, über die er schrieb, gut kannte, fehlt „Utopia Avenue“. Kureishi hat seine Fantasie von der Realität beflügeln lassen. Mitchell hat zwar alles akribisch recherchiert, aber es gelingt ihm nicht immer, dieses Interieur mit Eigenleben zu füllen. Freiere Akkorde, wie Ursula K. Le Guin postulierte, hätten gutgetan.
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